Nicht erst die WM zeigt: Niederlagen gehören zum Leben. Fragen an einen Kinderarzt und eine Politikerin.
Schlusspfiff im Spiel Deutschland gegen Spanien. Bastian Schweinsteiger sitzt am Boden und weint, Miroslav Klose schleicht an den jubelnden Spaniern vorbei. Bilder eines Sieges, Bilder einer Niederlage. Am Ende werden an dieser Fussball-Weltmeisterschaft von 32 Mannschaften 31 unterlegen sein.
«Fussballer haben kein Ritual fürs Verlieren», hat die Politikerin Judith Stamm beobachtet, «stattdessen liegen sie herum wie verwundete Krieger.» Den Torjubel zelebrieren Fussballer, die siegreichen Mannschaften bedanken sich bei den Anhängern.
Die unterlegene Mannschaft dagegen löst sich in ihre Bestandteile auf. Die deutschen Fussballer, schreibt die «Süddeutsche Zeitung», «standen ratlos und irgendwie sinnsuchend auf dem Platz herum».
Judith Stamm empfindet dies als merkwürdig. «Ein Schwingerkönig ist sicher auch frustriert, wenn er einmal nicht gewinnt.
Aber nach dem Ende des Kampfes wischt traditionsgemäss der Sieger dem Verlierer die Sägemehlspäne vom Rücken – und die Welt ist wieder in Ordnung.»
Wie aber kommt die Welt in Ordnung? Man kann den Fussball – wie andere Sportarten auch – als einen Spiegel des Lebens sehen. Im Leben wie im Fussball ist der Misserfolg eher Normalfall als Ausnahme.
«Wir müssen das Verlieren ja ohnehin lernen, wir haben gar keine Wahl», sagt der Kinderarzt Remo Largo, der in seinen Büchern «Babyjahre» und «Kinderjahre» die Entwicklung des Kindes nachzeichnet. «Schon Vierjährige fangen an, sich zu vergleichen», erklärt er. «Sie stellen fest, dass andere Kinder dieses und jenes besser können. Sie erkennen, wo sie selber besser sind. So fängt es an mit dem Gewinnen und Verlieren.»
Etwas anderes freilich ist es, ob sie mit dem Verlieren auch gut leben können. «Verlieren ist oft mit einer Wertung verbunden», sagt Remo Largo, «und auf diese Wertung kommt es an.» Wie ein Kind mit Niederlagen umgehen könne, hänge ganz entscheidend von der Umgebung ab, fährt Largo fort: «Geben die Eltern einem Kind zu verstehen, dass ihnen ein Erfolg ungemein wichtig wäre, so wird sich das Kind mit dem Verlieren schwer tun.» Schlecht verlieren kann ein Kind deshalb vor allem dann, wenn es wenig Selbstwertgefühl hat.
Dieses Selbstwertgefühl, sagt Largo, «hat aber viele Wurzeln. Wenn ein Kind sich also in einem Spiel als schlechter Verlierer erweist, dann hat das unter Umständen gar nichts mit dem Spiel zu tun.» Es gehe dabei «um eine Art bilanzieren», fasst Remo Largo zusammen. «Man kann es sich leisten zu verlieren, wenn man an anderen Orten Erfolg hat.»
Läuft es mit dem Gefühl herum, dass es sonst gut sei, dann, so Largo, «kann ein Kind auch locker ein Fussballspiel verlieren. Ein Migrationskind aber, das in der Schule Probleme hat, muss vielleicht gewinnen.» Das gelte im übrigen auch für Nationen: «Jene, die an einer sportlichen Niederlage schwer zu beissen haben, haben es am nötigsten.»
Man muss also das Verlieren lernen – und je weiter man sich aus dem Fenster lehnt, umso wahrscheinlicher ist das Scheitern. Wirtschaftsleute machen diese Erfahrung. Und Politiker.
Judith Stamm, die für die Luzerner CVP von 1983 bis 1999 im Nationalrat gesessen und es 1986 gewagt hat, gegen zwei (männliche) Schwergewichte ihrer Partei für den Bundesrat zu kandidieren (und prompt verloren hat), kann davon ein Lied singen. «Ich gehe ja von meinem Typ her gern mit dem Kopf durch die Wand», sagt Judith Stamm. «Deshalb musste ich als Politikerin schon mit dem Verlieren leben lernen.» Mehr noch. Sie erklärt: «Verlieren konfrontiert uns mit dem Schicksal.
» Irgendwie gehört das Scheitern zum Menschen.
«Die Erde ist ein Planet der Enttäuschungen», schreibt auch der Journalist Wolf Schneider in einem schönen Buch über die von den Dichtern hochgeschätzten «Grossen Verlierer» (siehe Leseprobe). «Während die Spezies <Mensch> als einsamer Sieger durch die Evolution stolziert, widerfährt dem einzelnen Erdbewohner nichts wahrscheinlicher als das Misslingen.»
Doch kehren wir zurück zu Judith Stamm. An zwei Niederlagen erinnert sie sich besonders deutlich – 1975 und 1986 – und an eine dritte im Jahr 2007, die sich um das Rütli und den Kampf gegen die Rechtsextremen drehte. 1975 sollte sie für die CVP in Luzern einen Stadtratssitz erobern. Ihr Mitbewerber wurde gewählt, sie nicht. «Ich wusste schon da – und auch 1986 –, dass ich im Grunde nicht gewinnen kann.
Aber es ist wie im Fussball: Eine Mannschaft weiss ja, wie stark sie ist, und setzt, wenn sie die unterlegene ist, auf eine Überraschung. Auch die Politikerin hofft auf ein Quentchen Glück.» Nur sei es dann nicht so schlimm zu verlieren, «man ist ja emotional darauf eingestellt», sagt sie.
1975 musste sie an der Parteiversammlung ihre Niederlage eingestehen.
«Ich dachte, dass mir das schwerfallen wird», erzählt Judith Stamm, «und habe die Erfahrung gemacht, dass das ganz einfach ist.» Schlimmer sei das «Rütli-Derby» gewesen, wo Judith Stamm als Präsidentin des Organisationskomitees wegen des Widerstands aus der Innerschweiz selbst die Bundesfeier zunächst absagen musste. «Umso schöner war es, dass diese Feier dann doch noch stattfinden konnte.»
In einer Gesellschaft, die so sehr auf Erfolg getrimmt ist wie die unsrige, ist es schwer, das Verlieren zu lernen. Judith Stamm erinnert sich an die Beerdigung eines Parteikollegen, der sich sehr für das Schwingen interessiert habe. «Bei diesem Begräbnis hat eine Enkelin dieses Theodor Schnider erzählt, er habe ihr immer gesagt: <Das ist wie im Leben: Man kann gewinnen, und man kann verlieren. Beides muss man akzeptieren.»
Noch eine letzte, sehr schöne Anekdote fällt Judith Stamm ein: «Eine Mutter hat den Sonntagskuchen immer in ungleiche Stücke geteilt und zu ihren Kindern gesagt: Genau so ist es im Leben – heute bekommt ihr vielleicht ein kleines Stück. Und nächstes Mal ein grösseres.»