Radikalisierung
«Terroristen sind ganz normale Leute»

Johannes Saal schreibt seine Doktorarbeit an der Universität Luzern zum Thema Terrorismus. Er warnt: Die Radikalisierung wird auch in der Schweiz eine immer grössere Bedrohung

Anna Miller
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Laut Saal können Prediger Immigranten die Idee in den Kopf setzen, dass sie Opfer seien. Im Bild Flüchtlinge vor einem islamischen Gebetsraum in Hamburg.

Laut Saal können Prediger Immigranten die Idee in den Kopf setzen, dass sie Opfer seien. Im Bild Flüchtlinge vor einem islamischen Gebetsraum in Hamburg.

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Herr Saal, warum ziehen Menschen in den Dschihad?

Johannes Saal: Das ist eine komplexe Frage. Klar ist aber, dass terroristische Akte wie solche in Paris und Brüssel in der Regel kollektive Handlungen sind. Die Täter denken sich das normalerweise nicht alleine aus, sie sind dabei eingebettet in soziale Gruppen, haben Familie und Freunde, ein Netzwerk. Familien- und Freundesbeziehungen spielen insbesondere bei Rekrutierung eine bedeutende Rolle.

«Knallharter Dschihadismus ist in der Schweiz ein neues Phänomen»: Johannes Saal, Doktorand der Religionswissenschaften an der Universität Luzern

«Knallharter Dschihadismus ist in der Schweiz ein neues Phänomen»: Johannes Saal, Doktorand der Religionswissenschaften an der Universität Luzern

Und das Internet?

Natürlich können die Leute Propaganda übers Internet konsumieren, aber die Rekrutierung läuft immer noch stark über soziale Gruppen. Das heisst, ich schaue, was mein Bruder, meine Freunde, aber auch der Imam machen. Ich lasse mich von meinem Umfeld beeinflussen. Der Dschihadismus ist eine Jugendkultur geworden. Das heisst nicht, dass diese Leute zwangsläufig religiös versiert sind. Viele kommen aus nicht religiösen Haushalten und werden dann mit schwarz-weissen Ideologie-Konzepten konfrontiert. Einige Täter kommen aus sozial problematischen Familien, andere haben mit Identitätskrisen zu kämpfen. Die religiöse Ideologie gibt ihnen Struktur.

Spielt Religion also eine kleine Rolle am Ende?

Man darf den Anteil der Religion an diesen Entwicklungen nicht verneinen, wie das teilweise in der Politik noch immer passiert. Man darf sie aber auch nicht pauschal auf den Islam zurückwerfen. Religiöse Stätten wie Moscheen können Anlaufstellen für Rekrutierungsprozesse sein, auch wenn es wenige sind. Das haben wir am Fall Winterthur gesehen.

Ist Religion gewalttätig?

Jede Religion ist anfällig für Gewalt, auch das Christentum, der Buddhismus. Religionen sind nicht homogen. Diese Entwicklungen sind nicht neu, weil Religionen politischen und gesellschaftlichen Prozessen ausgesetzt sind.

Warum sind wir ausgerechnet jetzt mit dem Terror konfrontiert?

Ein Erklärungsansatz ist, dass die Fragmentierung des Nahen Ostens dafür verantwortlich ist. Aber ich finde es nicht richtig, immer die eine grosse Antwort zu suchen. Einfache Erklärungen gibt es nicht. Terror ist sehr komplex und vielschichtig.

Wie liesse sich Terror verhindern?

Unter anderem durch Bildung, gesellschaftliche Teilhabe und Sicherheit. Autokratische Systeme im Nahen Osten begünstigen radikale Entwicklungen. Das erklärt aber noch nicht, warum sich Leute im Westen radikalisieren. Dass die Schweiz bisher vom Terror verschont blieb, kann daran liegen, dass die Netzwerke sich hier viel später gebildet haben.

Sie glauben also, es steht uns alles noch bevor?

Das schliesse ich nicht aus. Aber es wird länger dauern, bis der Terror in der Schweiz ankommt, weil die Strukturen dafür noch nicht stehen, zumindest in der Deutschschweiz. Genf war lange die inoffizielle Hauptstadt der Muslimbrüder in Europa. Aber knallharter Dschihadismus ist in der Schweiz ein neues Phänomen. In den letzten Jahren wurde auch in der Schweiz ein Anstieg von Leuten beobachtet, die sich radikalisieren. Die Rekrutierungsnetzwerke sind besser geworden, die geografischen und sprachlichen Verbindungen nach Deutschland und Österreich, aber auch in den Balkan sind relevant. Die Schweiz ist keine Insel.

Wie gross ist die Chance, dass ich einen Dschihadisten kenne, ohne es zu wissen?

Rein statistisch recht gering. Es ist jedoch ein gängiges Klischee, zu glauben, dass Terroristen irrationale, psychisch kranke Soziopaten sind. In Tat und Wahrheit sind es ganz normale Leute. Leute, die mit Ihnen zur Schule gegangen sind, mit denen Sie aufwuchsen.

Was können wir gegen diese Entwicklungen tun?

Die Kurzzeitlösung lautet: Strafverfolgung, Polizeiarbeit. Langfristig aber muss man Prävention betreiben. In beiden Fällen steckt die Schweiz noch in den Kinderschuhen. Ich glaube, die Behörden sind damit überfordert. Das Bundesstrafgericht hat derzeit rund 60 hängige Verfahren, die kommen mit der Arbeit gar nicht hinterher.

Macht Ihnen das nicht Angst?

Das macht mir keine Angst, weil die Anzahl der Muslime, die radikal sind, sehr gering ist. Panikmache ist fehl am Platz, das Abendland wird nicht islamisiert. Aber ich glaube, es ist besorgniserregend, dass potenzielle Gefährder der Demokratie herumlaufen. Denn islamistischer Terror und antimuslimische Ressentiments nähren sich. Dschihadisten und Rechtspopulisten profitieren davon, dass gegenseitig gehetzt wird.

Beeinflusst Fremdsein Radikalisierung?

Ja, das spielt eine Rolle. Einige Prediger setzen den Leuten diese Idee in den Kopf, dass sie Opfer sind, Fremde in den Gesellschaften des Westens. Man will den Eindruck erwecken, dass die Mehrheit der Gesellschaft gegen den Islam ist. Dadurch erwirkt man Abgrenzungsprozesse junger Muslime.

Gehört Religion abgeschafft?

Nein. Man kann Menschen nicht davon abhalten, sich zu radikalisieren, indem man ihre Symbole und Werte abschafft. Das wäre kontraproduktiv. Religionsfreiheit ist wichtig. Jeder soll seine Religion so leben, wie er will, solange die individuellen Rechte seiner Mitmenschen nicht beeinflusst werden.

Was hat dschihadistischer Terror mit dem Islam als Religion zu tun?

Der Islam an sich ist nicht das Problem, es geht um eine spezifische Strömung des Islams. Man muss sich jedoch vor Augen halten, dass radikale Muslime auch Muslime sind, sie vertreten den Islam genau so wie alle anderen Parteien. Der Islam ist kein monolithischer Block, er besteht aus verschiedenen Strömungen. Im Westen ist Religion sehr individualisiert, und der Islam im Westen ist genau so. Die gesellschaftliche Diskussion bedarf daher mehr Differenzierung.