Kinder leben so sicher wie nie zuvor. Entspannte Eltern sind wir aber nicht geworden. Warum eigentlich?
Vor 150 Jahren starb in Europa jedes vierte Kind noch vor seinem fünften Geburtstag. Heute liegt die Kindersterblichkeit in Ländern wie der Schweiz oder Deutschland bei 4:1000. Die Rate ist von 25 Prozent auf 0,04 Prozent gesunken. Aber solche Zahlen helfen den heutigen besorgten Eltern offenbar nicht.
«Wenn die Wahrscheinlichkeit eines Genickbruchs bei 50 Prozent läge, würdest du unseren Sohn dann auf Bäume klettern lassen?», fragt mein Mann. «Natürlich nicht!», antworte ich. «Was wäre, wenn das Risiko bei 30 Prozent läge?» «Auch nicht.» «Zehn Prozent?» Ich zögere mit der Antwort. Zehn Prozent sind immer noch inakzeptabel, keine Frage. Aber gibt es denn eine Zahl, zu der ich Ja sagen könnte, ohne das Gefühl zu haben, mein Kind vorsätzlich der Gefahr auszusetzen?
Warum sollten wir ein derartiges Unglück in Kauf nehmen, wenn es doch zu verhindern ist? Die Zukunft unseres Kindes riskieren für etwas, das vollkommen belanglos wird im Licht eines Lebens im Rollstuhl oder gar des Tods? Kein Kind muss Bäume erklimmen, um irgendwann auf eine glückliche Kindheit zurückblicken zu können.
Eltern wollen ihre Kinder vor Gefahren schützen, und ein Blick zurück in die Geschichte zeigt, dass sich unsere Vorsicht an vielen Orten ausgezahlt hat: Es ist heute selbstverständlich, dass wir Kinder im Auto angurten, dass sie sauberes Wasser zu trinken bekommen, dass man sich neben dem Babybettchen keine Zigi anzündet.
Wir verbieten unseren Kindern aber nicht das Velofahren, sondern setzen ihnen einen Helm auf. Wir halten sie nicht vom Freibad fern, sondern meiden die Mittagshitze.
Wir gehen viele Ängste ganz pragmatisch an. Aber manche eben auch nicht. Nachrichten über Unglücksfälle in aller Welt erreichen uns heute umgehend, und die schlimmsten graben sich besonders tief ins Gedächtnis ein. Die Entführung und Ermordung der fünfjährigen Ylenia aus Appenzell 2007 dürfte auch zwölf Jahre später noch vielen in Erinnerung sein. Spult sich vor dem inneren Auge erst einmal der Film ab, welche Todesängste, welche Qualen das Mädchen ausstehen musste, dass es auch das eigene Kind hätte sein können, kann die Wahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses noch so winzig sein. Da fühlt es sich aller Verkehrsunfallstatistiken zum Trotz manchmal sicherer an, die Tochter im Auto zur Schule zu bringen, als sie mit dem Gspänli zu Fuss gehen zu lassen.
Hinzu kommt: Wir verfügen heute über mehr Informationen denn je darüber, welche Gefahren lauern und wie man den Nachwuchs schützt. Wir haben zudem mehr Kontrolle, was dieser gerade tut und wo er sich aufhält: Wir bekommen weniger Kinder als früher, diese verbringen mehr Zeit unter der Aufsicht von Erwachsenen, Smartphones und GPS-Tracker versprechen selbst dort Überblick, wo das Auge nicht hinreicht.
Je mehr wir jedoch wissen, desto mehr nimmt auch der Anspruch zu, Kinder selbst vor den unwahrscheinlichsten Gefahren zu bewahren. Es passt in unsere Zeit, zum allgegenwärtigen Machbarkeitsglauben, dass wir meinen, das Unglück liesse sich abwenden, wenn wir uns genügend Mühe geben und ja nichts übersehen.
Welche Gefahren dennoch als unvermeidliches Schicksal hingenommen werden und welche als inakzeptabel gelten und alle erdenklichen Massnahmen zur Vorsicht rechtfertigen, hat viel mit gesellschaftlichen Normen zu tun.
Selbst Boulevardblättern wäre es nach Ylenias Verschwinden nicht eingefallen, deren Mutter Vorwürfe dafür zu machen, dass sie die fünfjährige Tochter den kurzen Weg zum Hallenbad allein hatte gehen lassen, das gerade neben ihrem Kindergarten lag. Der Schulweg als Meilenstein kindlicher Autonomieentwicklung ist in der Schweiz so fest verankert, dass eher in Erklärungsnot gerät, wer sein Kind nicht ohne Aufsicht von Erwachsenen losziehen lässt.
Die amerikanische Autorin Kim Brooks hingegen konnte sich glücklich schätzen, mit der Verpflichtung zu 100 Stunden gemeinnütziger Arbeit und einem Kurs in Elternbildung davongekommen zu sein. Sie hatte ihren Sohn im Bundesstaat Virginia einige Minuten lang vor einem Supermarkt alleine im Auto warten lassen. Obwohl sich das Kind keinen Augenblick in Gefahr befand, befanden nicht nur Freunde und Fremde, sondern auch das Gericht, dass sie fahrlässig gehandelt habe.
Wie konnte aus der ganz persönlichen Angst, das eigene Kind könnte entführt werden, ein Katalog gesellschaftlicher Forderungen und sogar gesetzlicher Bestimmungen werden? Haben nicht auch viele Menschen panische Angst vor dem Fliegen? Trotzdem muss sich niemand öffentlich dafür rechtfertigen, wenn er mit seiner Tochter ein Flugzeug betritt und sie damit der äusserst geringen, aber doch reellen Gefahr eines Absturzes aussetzt.
Brooks hat mit vielen Menschen über diese Fragen geredet und ist dabei auf die Psychologin Barbara Sarnecka gestossen. Die Kognitionsforscherin legte in einem Experiment mehr als 1500 Menschen verschiedene Szenarien vor, in denen eine Mutter ihr Kind kurz allein lässt, und liess sie die Wahrscheinlichkeit beurteilen, dass diesem etwas zustösst. Das Ergebnis: Je moralisch fragwürdiger die Befragten den Grund für die Abwesenheit der Mutter hielten, desto höher schätzten sie das Risiko ein. Holte sich die Mutter einen Kaffee oder traf kurz ihren Lover, brachte sie ihr Kind damit also offenbar in grössere Gefahr, als wenn sie von einem Auto angefahren wurde und das Kind unabsichtlich alleine liess.
Als Sarnecka die Mutter in den Kurztexten durch den Vater ersetzte, fiel ihr noch etwas auf: War der Grund für dessen Abwesenheit ein Geschäftstermin, wähnten die Befragten das Kind offenbar ebenfalls in geringerer Gefahr. Das war aber nicht der Fall, wenn die Mutter beruflich bedingt weg war. Erwerbstätigkeit scheint im Leben eines Vaters unvermeidlich zu sein – in dem der Mutter nicht.
Was für ein Bild der Welt zeichnen wir ausserdem unseren Kindern, wenn wir ständig Ausschau halten nach den schlimmsten aller schlimmen Fälle? Wie vermittelt man Kindern Zuversicht, wenn man ihr Leben fortlaufend mit Warnungen versieht?
Dabei braucht es vermutlich gar nicht viel. Ich kann mich noch heute an den Tag erinnern, an dem mein bester Freund und ich zum ersten Mal bis nach Einbruch der Dunkelheit vor dem Haus Frisbee spielen durften. Dem Gefühl von Abenteuer tat es keinerlei Abbruch, dass unsere Mütter stets in Rufweite waren. Man kann mit dem spätabendlichen Frisbee nicht ewig zuwarten. Es ist unwahrscheinlich, dass eine Achtzehnjährige dieselbe Mischung aus Aufregung, Stolz und Übermut dabei verspürt wie eine Achtjährige. Das Gefühl entsteht wohl nur da, wo man sich auf dem Weg zu dessen Erfüllung ein wenig strecken, grösser werden muss.
An einem Dienstagabend diesen März ist in München ein sechzehnjähriges Mädchen ums Leben gekommen. Kein Automobilist hat es angefahren, kein Sexualstraftäter ist ihm auf dem Nachhauseweg aufgelauert. Die Jugendliche hatte in der Badewanne Musik gehört und das Ladegerät ihres Smartphones an einen Mehrfachstecker angeschlossen, der vermutlich ins Wasser glitt. Sie erlitt einen Stromschlag.
Ein kurzer Beitrag in der Zeitung, rasch überflogen, und das Kartenhaus der Kontrolle fällt in sich zusammen. Das Leben bleibt also doch unberechenbar? Wir nehmen der Tochter das Versprechen ab, dass sie nie ihr Handy beim Baden auflädt. Das Häuschen wird wieder aufgebaut, Karte um Karte, bis zum nächsten Mal.
Vielleicht konzentrieren wir uns manchmal auch deshalb auf Risiken, die in keinem Verhältnis zu den wirklich grossen Gefahren stehen: Weil es diejenigen sind, die wir in Schach halten können. Weil wir in einer unberechenbaren Welt wenigstens ein paar gebannt wissen wollen.
Wir müssen wohl nicht nur die Idee aufgeben, wir könnten jegliches Unglück abwenden, wenn wir uns nur genug anstrengen – sondern auch die Vorstellung, dass so die Angst um unsere Kinder ein Ende fände. Die wird bleiben, ein Leben lang. Damit müssen wir aber selbst zurechtkommen.
Dies ist ein Beitrag aus «wir eltern». Die aktuelle Ausgabe ist derzeit am Kiosk erhältlich.