Lukas Achermann lebt seit drei Jahren in Sibirien. Der ausgewanderte Luzerner führt Kleinstgruppen an Sehnsuchtsorte seiner neuen Heimat.
«Heute war ein prächtiger Tag. Der Himmel war stahlblau, mit viel Sonne und einer leichten Bise.» Die Stimme klingt vertraut nah, dabei telefoniert Lukas Achermann gerade aus seinem Holzhaus in Sibirien, sechs Zeitzonen weit weg. Es ist 18 Uhr Ortszeit. Der ausgewanderte Luzerner hat den Tag damit verbracht, das Futter für seine Schweine zu rüsten, im Haus aufzuräumen und mit den Nachbarn zu schwatzen.
«An Nachmittag habe ich noch am russischen Kleinbus herumgeschraubt, den ich gemietet habe.»
Ein wendiges Gefährt, ideal, um durch die Steppen zu fahren und Touristen seine Lieblingsplätze zu zeigen. Seit drei Jahren lebt Achermann in Ulan-Ude, der Hauptstadt der russischen Republik Burjatien in Sibirien.
Schon als Bub begeisterte sich Lukas Achermann für Sibirien und die Sowjetunion. Die Welt war noch geteilt in Ost und West, getrennt durch den Eisernen Vorhang. «Im Westen die Guten, im Osten die Bösen», sagt Achermann. Das sei ihm etwas zu einfach erschienen, «weshalb ich mich für die ‹Bösen› zu interessieren begann».
Es hat gedauert, bis er seine Fernwehträume in die Tat umsetzen konnte. Aber dass er in Sibirien dereinst mit Wuschelkopf statt Kurzhaarfrisur am Morgen zuerst meditieren und dann Schweine füttern würde, das hätte er sich nie träumen lassen.
2005 war Achermann zum ersten Mal in Russland unterwegs. Der Baikalsee und seine Umgebung liessen sein Herz höher schlagen. Die Weite des Landes fasziniert ihn immer noch. Aber auch die klimatischen Verhältnisse, die bewegte Geschichte und «die beseelten Menschen, die diese Landmasse bewohnen», haben es ihm angetan.
Um die Schönheiten anderen näherzubringen, kam er auf die Idee, selber ein touristisches Angebot zu entwickeln. Der ausgebildete Lastwagenmechaniker baute zu Hause in der Schweiz ein Reisemobil, mit dem er bald darauf die 8000 Kilometer von Luzern zum Baikalsee zweimal zurücklegte. Das Schweizer Fernsehen wurde aufmerksam und begleitete ihn 2016 für die Serie «Jetzt oder nie – lebe deinen Traum» auf der langen Reise.
Weil das Hin und Her anstrengend wurde, entschied sich Achermann, seinen Lebensmittelpunkt nach Sibirien zu verlegen.
«Als Reisender bist du immer willkommen, und alles ist toll. Ich wollte wissen, wie es ist, hier zu leben, mit Alltagssorgen, den Behörden, den fremden Menschen.»
Anfänglich wohnte er im Reisemobil, dann suchte er ein Haus. «Da mir nichts wirklich zusagte, beschloss ich, selber eines zu bauen.»
Achermann lernte Moritz aus Deutschland kennen, der schon viele Jahre in Russland lebt. Die beiden schlugen sich mit ähnlichen Ideen und Vorhaben herum und merkten, dass es gemeinsam einfacher ginge. Also kaufte Moritz mit seiner russischen Frau und den beiden Kindern gleich das Nachbargrundstück und baute ebenfalls ein Haus.
Die zwei Holzbauten stehen am Stadtrand von Ulan-Ude, fünf Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Der Blick geht über Ebenen zu den fernen Hügelzügen am Horizont. Achermanns Haus hat zwei Etagen und grosse Fenster. Er hat es sich gut eingerichtet. «Heute habe ich auf dem Balkon zu Mittag gegessen. Es war perfekt.»
Auf dem grossen Gelände zwischen den beiden Häusern können Fernreisende campieren. Im Sommer, wenn es heiss ist oder ein sehr starker Wind weht, steht ihnen eine Jurte als Aufenthaltsraum zur Verfügung.
Ulan-Ude zählt 450000 Einwohner und Einwohnerinnen und liegt am Zusammenfluss der Flüsse Selenga und Uda. Gegen Süden öffnet sich die Steppenlandschaft, die der Mongolei sehr ähnlich ist. Nördlich und westlich erstrecken sich Hügellandschaften mit Wald. Zum kontinentalen Klima mit heissen Sommern (bis 35 °C) und kalten Wintern (bis -35 °C) kommt eine ausgeprägte Trockenheit.
«Wir haben durchschnittlich 300 Sonnentage. Mehr als Sotschi und die Schwarzmeerküste.»
Die Republik Burjatien ist vom Buddhismus geprägt, was in der Architektur zu sehen ist. Selbst der Tower vom Flughafen sei mit seinem geschwungenen Dach einem buddhistischen Kloster nachempfunden, sagt Achermann. «Nirgendwo sonst in Russland hatte ich das Gefühl, so weit im Osten zu sein.»
Angetan haben es Achermann vor allem die sanfte Hügellandschaft der Steppe und der Baikalsee, das heilige Meer, wie der See auch genannt wird. «Er gibt mir Kraft und Zuversicht. Irgendetwas strahlt dieser uralte See aus, was einen in seinen Bann zieht.»
Ein weiteres Sehnsuchtsziel ist für ihn das Barguzin-Tal, nordöstlich des Baikalsees, ein enorm breites Tal zwischen einer hohen Bergkette und weiten Hügeln. «Es gibt dort viele heisse Quellen, buddhistische und schamanistische Kraftorte, Felszeichnungen und verwitterte Felsformationen.»
Die Pandemie hat auch das Reisegeschäft in Sibirien lange Zeit lahmgelegt. Achermann mag nicht jammern. «Als letztes Jahr die Tourismus-Industrie zusammenbrach, sagten wir uns: Zu essen brauchen die Leute immer. Also beschlossen wir, zehn Ferkel grosszuziehen und qualitativ gute Fleischprodukte wie Schinken, Salami und Würste herzustellen.» Die Tiere halten ihn auf Trab. Futter zubereiten, füttern, Ställe misten, auch der Unterhalt des Hauses und der Fahrzeuge gibt zu tun. Im Winter hackt er Holz und heizt ein.
In den letzten Monaten ist er dank Erspartem sowie Spenden von Familie und Freunden über die Runden gekommen. Das Leben vor Ort ist für Europäer günstig, aber nicht für die Einheimischen. Das Durchschnittseinkommen in Burjatien beläuft sich auf 300 Franken monatlich, ein Liter Benzin kostet 60 Rappen.
Ein Europäer, der nach Sibirien ziehe, gelte nach wie vor als Exot, meint Achermann und grinst. Die Einheimischen erlebt er als hilfsbereit und unkompliziert. Mit dem Russisch, das er sich angeeignet hat, kann er sich inzwischen gut verständigen. Er hat viele Freunde und Bekannte, die er gelegentlich trifft.
«Trotz Corona ist das Leben hier recht locker.»
Gestern besuchte er mit seiner russischen Freundin, die ebenfalls in Ulan-Ude wohnt, die Oper.
Heimweh habe er eigentlich nie, sagt Achermann. Burjatien ist seine Heimat geworden. Er möchte weiterhin hier leben und arbeiten. Es gebe Momente, wo er sich aber frage, was er eigentlich tue und warum er das alles auf sich nehme.
«Wenn ich an Behördengänge, die Sprache oder die Mentalität denke, wäre das Leben in der Schweiz für mich in vielen Belangen einfacher.»
Doch er nimmt die Schweiz und Europa inzwischen als eng, kleinbürgerlich, ängstlich und «komplett überreglementiert» wahr. Man traue sich häufig nicht, ein Risiko einzugehen, und habe Angst vor Verlust. «Viele leben zu sehr in einer Komfortzone und sind sich dessen nicht bewusst.»
Sibirien ist bei vielen Menschen ein grosser weisser Fleck auf der Landkarte. «Nur mit der Transsibirischen Eisenbahn durchs Land reisen, das zählt nicht», findet Lukas Achermann. Deshalb hat er 2017 mit Pajechali-Reisen sein kleines Unternehmen gegründet. Die Pajechali-Reisenden sind in Kleinstgruppen bis maximal 4 Personen in einem komfortablen Reisemobil unterwegs. «Wir bewegen uns langsam und fahren durchschnittlich 2 bis 3 Stunden am Tag.» Aufgrund der Pandemie bietet Achermann auch virtuelles Reisen an. Man kann mit Achermann bequem von zu Hause aus durch die Gegenden reisen, fragen und live dabei sein. Eine solche Reise dauert rund 4 Tage à 2 Stunden. www.pajechali-reisen.ch
Eine Trekkingreise an den Baikalsee bietet Globetrotter diesen Sommer an (13 Tage) oder eine Wanderung um den Baikalsee (5 Tage): www.globetrotter.ch.
Gleich den ganzen August lang in Russland und Sibirien unterwegs ist man mit www.rubi-reisen.ch.
Reisen mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau bis nach Sibirien sind zum Beispiel buchbar bei www.atlas-reisen.ch und www.railtour.ch. (pm/chm)