Shabby chic
Antike Möbel halten Einzug in Studenten-WGs – das ist Ausdruck eines neu gelebten Individualismus

Nie zahlte man weniger für alte Massivholzmöbel als heute. Kein Wunder, sind sie bei Studentinnen und Studenten gerade äusserst beliebt.

Simon Maurer
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Früher genoss die Bourgeoisie Tee auf dem Sofa im Rokokostil, heute trinken Studenten darauf Wein aus Tetrapacks.
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Hat hier Goethe seine Unterhosen aufbewahrt? Antike Möbel standen früher in Haushalten der wichtigsten historischen Figuren.
Am furnierten Beistelltisch fühlt sich die Verhandlung über die Wahl des nächsten Netflix-Films an wie ein milliardenschwerer Deal zwischen den Mächtigen.
Filigrane Massivholzmöbel passen heute ins Studentenbudget – vor 50 Jahren waren sie noch Bankdirektoren vorbehalten.
Liegt dort unten nicht ein Kerzenständer aus dem Bernsteinzimmer? Im Brockenhaus findet man noch echte Schätze.

Früher genoss die Bourgeoisie Tee auf dem Sofa im Rokokostil, heute trinken Studenten darauf Wein aus Tetrapacks.

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Mon dieu, was würde sich Louis XV ärgern! Die eleganteste Handwerkskunst Europas steht nicht mehr in Prunksälen des Adels, sondern in Wohnungen von Normalos und Studenten. Nussbaum-Salontische und samtüberzogene Fauteuils aus der Gründerzeit werden massenhaft in Online-Foren abgetauscht. Heute kann sich jeder für wenig Geld im Brockenhaus das Mobiliar eines Königs leisten.

Entsprechend erfreuen sich alte Möbel bei Jungen immer grösserer Beliebtheit. «Gerade nach Covid rissen uns die Leute klassische Massivmöbel regelrecht aus den Händen», sagt Jenja Dörig vom Zürcher Brockenhaus an der Neugasse. Viele seien während der Pandemie oft zu Hause gewesen und hätten gemerkt, dass Billigmöbel aus der Fabrik auf Dauer kein heimeliges Gefühl auslösen. Das habe er vor allem bei Stubenmöbeln gesehen: «Mit Abstand am meisten gesucht wurden alte bequeme Sofas sowie Möbel im Stil der 80er-Jahre».

Der tiefe Preis ist der Hauptgrund, wieso alte und antike Möbel immer häufiger in Studenten-WGs anzutreffen sind. Kostete ein Massivholz-Sekretär mit Intarsien vor 50 Jahren gerne noch um die 5000 Franken, gibt’s ihn heute secondhand für ein paar hundert. Das liegt nicht zuletzt an der fehlenden Nachfrage bei der breiten Masse: Die meisten über Dreissigjährigen wohnen lieber mit hell kolorierten Spanholz-Möbeln im Ikea-Stil anstatt mit Massiv­inventar vom Schreinermeister. Dazu kommt, dass die Möbelhändler im nahen Ausland ihre Antiquitäten wegen des starken Frankens momentan besonders gerne in die Schweiz verkaufen und so den Preis zusätzlich nach unten drücken.

Alte Möbel haben eine bessere Klimabilanz

Doch es gibt noch einen zweiten Aspekt: Die zum Teil jahrhundertealten Holzmöbel haben wegen ihrer Langlebigkeit die viel bessere Klimabilanz als Spanholz-Billigware, die nach ein paar Jahren schon ersetzt werden muss. Bei jungen Klimaschützern ist Opas altes Kanapee deshalb beliebter als eine neue Couch vom Möbel-Discounter. Aus der ursprünglich aus der radikalen Öko-Szene stammenden Bewegung hat sich deshalb unter dem Stichwort «Shabby chic» ein ganz bestimmter ­Möbelstil entwickelt.

Fans dieser Strömung setzen auf Mobiliar, das Kratzer aufweist und dem man sein stolzes Alter ansieht. Solches Interieur fällt mit schnörkeligen Designs und maserartig verzierten Oberflächen auf. Entscheidend dabei ist, dass jedes dieser Möbel­stücke ein Unikat ist, am besten aus alter Handarbeit. Ein absolutes No-Go sind bei «Shabby chic» dagegen Waren aus Massenproduktion, die Individualität nur vorgaukeln. Längst gibt es nämlich Möbelfabriken, die neue Spanholzmöbel im Retro-Look herstellen, was der nachhaltigen Grundidee aber diametral widerspricht.

Der Stil ist nicht zu verwechseln mit der reinen Liebe für klassische Barockmöbel. Denn bei «Shabby chic» wird Alt­backenes oft von eigener Hand modernisiert: Möbel aus unterschiedlichem Holz erhalten beispielsweise einen neuen Farb­anstrich in einheitlichem Mattweiss – der dann über die Jahre durchaus ein wenig abblättern kann und einen noch cooleren Retro-Look erzeugt. Zum Teil werden die Möbel aber auch schon von den Brockenhäusern vor dem Verkauf restauriert, wie Jenja Dörig vom Zürcher Brockenhaus sagt.

Die Anhänger von «Shabby chic» und Secondhandmöbeln setzten mit ihrer Vorliebe für in die Jahre gekommenes Interieur einen bewussten Kontrapunkt zur immer weiter reichenden Effizienzsteigerung in unserer Gesellschaft. Ihnen geht es um die Rückbesinnung auf das Schöne, das in einer Welt des Profitdenkens und Ökonomisierens keinen Platz mehr findet. Möbel mit Rocaille-Verzierungen sind zwar weder platz­sparend noch besonders praktisch. Trotzdem hat der kultivierte Mensch seine Freude daran und braucht ebendiese verspielte Ineffizienz, um in der harten Realität des Alltags bei gutem Mut zu bleiben.

Tipps für den Möbelkauf

1. Persönlich bei Händlern und Brockenstuben vorbeizugehen, lohnt sich. Im Internet landen oft nur die Objekte, die im direkten Verkauf liegen geblieben sind.

2. Achten Sie darauf, dass einzelne Möbel aus harmonierendem Holz gefertigt sind. In einen einzigen Raum platziert, können mehrere filigrane Einzelstücke das Gesamtbild schnell stören.

3. Maserholz sollte nicht übermalt werden. Möbel, die daraus hergestellt wurden, sind im ­Originalzustand mehr wert – auch wenn sie Kratzer haben. Denn Maserholz ist auch heute noch selten.

4. Wenn Sie alte Möbel zu besonders günstigen Preisen finden wollen, besuchen Sie einen Händler, der auch Liquidationen und Räumungen anbietet. – Auf www.brockisearch.ch ­finden sich mehr als 600 Brockis in allen Kantonen. (smr)