Selbstporträt als alter Mann

Max Frisch hat 1982 ein drittes Tagebuch begonnen. Ob er zu einer Publikation ja gesagt hätte, ist umstritten – begleitet von Kontroversen erscheint es diese Woche. Frisch schreibt darin literarisch gültig noch einmal über die Liebe zu einer Frau, über Alter, Sterben und Tod.

Urs Bugmann
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«Muss ich etwas zu sagen haben?» Max Frisch in den Achtzigerjahren, zur Zeit der «Entwürfe». (Bild: ky)

«Muss ich etwas zu sagen haben?» Max Frisch in den Achtzigerjahren, zur Zeit der «Entwürfe». (Bild: ky)

«Hänge ich am Leben? Ich hänge an einer Frau. Ist das genug?» Die Sätze stehen auf den ersten Seiten der «Entwürfe zu einem dritten Tagebuch», die Peter von Matt jetzt aus dem Nachlass des 1991 mit 80 Jahren verstorbenen Max Frisch herausgibt. «Tagebuch 3. Ab Frühjahr 1982» hatte der Autor auf das Titelblatt notiert.

Gewidmet ist das Textfragment Alice Locke-Carey, der «Lynn» aus der Erzählung «Montauk» von 1974. Die 1943 geborene Amerikanerin war Frischs Begleiterin auf einer Lesereise durch die USA.

Seit 1980 lebten Alice Locke-Carey und Max Frisch abwechselnd in New York und Berzona zusammen. Am 20. April 1983 notierte Frisch in seiner Agenda: «Alice geht nach NY./Ende.»

Ohne Zukunft?

«Unsere Paarschaft ist ohne Zukunft», heisst es im dritten Tagebuch nach dem Abbruch einer Mexiko-Reise. Trotzdem entwirft Frisch aber ein Zukunftsbild, wenn er sich noch einmal als Architekt imaginiert, der das Idealbild einer Villa zeichnet, wo er Säulen streicht,

wo Platz wäre für eine Gefährtin, die nur indirekt sichtbar wird: jemand spielt Klavier, draussen weidet ein Pferd.

New York und Berzona sind die Gegenpole in diesen Texten, das Traumbild eines Hauses für den Lebensabend ist nur vage lokalisiert: Sein Vorbild steht in New England, die Vorstellung verbindet damit einen See, Birken und Erlen wachsen im Gelände, und auf der Veranda führt der, der sich dieses Haus erträumt, «ein langes Gespräch mit dem jungen Tschechow, der Tolstoi getroffen hat».

Das sind Erzählansätze, wie sie Frisch in seine 1950 und 1970 veröffentlichten ersten Tagebücher eingefügt hat. Solche Skizzen sind selten im dritten Tagebuch, es hält sich zumeist an unprätentiöse Alltagsbeschreibungen und Reflexionen. Der Schriftsteller als alter Mann zeigt sich hier im Selbstporträt, der Autor, der sich Rechenschaft darüber gibt, was er noch will oder soll.

«Ein fast unüberwindlicher Ekel vor der Schreibmaschine, Versuche mit der Handschrift, einmal auch mit dem Tonband, aber das hilft nicht – muss ich etwas zu sagen haben?»

Das Sterben, von dem Max Frisch auf diesen Seiten spricht, ist konkret: Er begleitet seinen Freund, den Zürcher Strafrechtsprofessor Peter Noll, der nach der Krebsdiagnose die Operation verweigert, durch die letzten Monate.

Er reist mit ihm nach Ägypten, spricht über Sterben, Freitod und Sterbehilfe – Themen, die das zweite Tagebuch 1966–1971 bestimmten. Sie werden hier nicht mehr erörtert, nur genannt und machen einer diskreten Beobachtung Platz: Wie geht der Freund um mit der endlichen Zeit?

Der Weltuntergang

Max Frisch hat das Tagebuch zu einer eigenen literarischen Form erhoben. Jetzt wird vehement darüber gestritten, ob die «Entwürfe» zu Recht publiziert werden (vgl.

Kasten) – oder ob es dafür nicht den Rahmen einer Gesamtausgabe gebraucht hätte. Sicher ist: Auch das Fragment seines dritten Tagebuchs liest sich als ein gültiges literarisches Werk.

Verknappt bis zur präzis rhythmisierten Form, die Ungesagtes mitklingen lässt, spricht das Tagebuch immer wieder von der Angst vor dem Weltuntergang.

Das Erschrecken über das Hochrüsten der Mächte in Ost und West, über die Bedrohung durch die Atombombe findet seine Entsprechung in der Angst vor dem eigenen Untergang, dem absehbar gewordenen Ende der Lebenszeit. Es kristallisiert sich in der Frage nach dem Weiterleben im Werk und in der Erinnerung der Nachwelt.

Ein Ich ohne Eitelkeit

Das Ich steht in der Mitte dieses Textes, aber dennoch fehlt ihm jede Eitelkeit.

Dieses Ich gibt sich Rechenschaft, sieht sich manchmal auch von aussen, ist um eine Sicht auf die anderen bemüht, die zu verstehen sucht. Amerika ist Anlass zu Liebe und Hass, Alice eine Gefährtin, die nah ist und fern: «Ich höre, was du, weit weg von mir, auf Tonband gesprochen hast vor einer Woche. Deine Stimme, dein Stammeln, dein Schluchzen. Nie bist du so gegenwärtig gewesen wie durch dieses Tonband.»

Und in Berzona werden um das Haus, das einst für eine andere Frau eingerichtet wurde, Bäume gefällt. Jetzt fällt der Blick frei auf den Friedhof.

Max Frisch: Entwürfe zu einem dritten Tagebuch. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Peter von Matt. Suhrkamp Frankfurt, Fr. 31.–. Ab 3. April im Buchhandel.