Sehnsucht ist die Kunst der Vorfreude

Nach diesem Wochenende gibt's kein Halten mehr: Der Frühling lockt. Ein paar Gedanken über die Sehnsucht.

Beda Hanimann
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Noch steht das Christbäumchen auf dem Baukran bei mir um die Ecke, auf den Hausdächern liegt Schnee, und eben noch froren und schlotterten wir. Und jetzt das, jetzt so ein Wochenende! Die Sonne brennt im Gesicht, die Vögel zwitschern in den Bäumen, und in den Dachrinnen gurgelt das Schmelzwasser, als flösse ein munteres Bächlein vorbei. Augen zu, und es ist Frühling. Aber woher kommt denn dieses alljährliche Plangen und Sehnen nach dem Frühling, die Sehnsucht nach wärmeren und längeren Tagen, nach Draussensein?

Die Sehnsucht, kann man nüchtern sagen, ist ein Kind der Unzufriedenheit, hinter der die verflixte Hans-im-Schneggeloch-Mentalität steht: Der Mensch ist so, er will immer das, was er nicht hat, und an dem, das er hat, kann er sich nicht freuen. Stimmt nicht ganz, nein, gerade in diesem Jahr nicht, wir haben den Winter genossen, diesen zauberhaften Schneewinter, die Wanderung auf den Gäbris, den Tag auf der Hundwiler Höhe, wo wir's gerade mit der Nasenspitze über den Nebel schafften, es war wunderbar. Aber jetzt reicht's.

Ein psychologischer Trick

Doch es ist nicht einfach das: Dass wir genug haben. Es ist nicht eine blinde Sehnsucht nach dem Anderen, nach dem Unmöglichen. So wie man sich nach dem Fremden, Exotischen, Unbekannten sehnt. Nach der unerreichbaren Ferne. Nach dem Tod. Nein, wir wissen genau, wonach wir uns sehnen, was wir wollen. Es ist der Frühling, die Wärme, die Sonne. Das Altbekannte, schon Dutzende Male Erlebte. Kann sich jemand, der noch nie die Jahreszeiten erlebt hat, auf den Frühling freuen? Nein, denn diese Sehnsucht zielt auf etwas, das Teil von uns ist. Auf die Rückkehr in einen früheren Zustand, wie man nach Sigmund Freud formulieren könnte.

Die Sehnsucht – ob nach dem Frühling, nach einem Menschen oder einem vergangenen Glücksgefühl – ist auch ein psychologischer Trick. Er erlaubt uns, gleichzeitig mit dem Hier und Jetzt auch das Andere, das Abwesende und Vermisste zu erleben oder gar auszuleben – wenn auch auf einer anderen Ebene der Realität. Doch wie andere Süchte, etwa Drogen-, Alkohol-, Spiel- oder Kaufsucht, bewegt sich auch die Sehnsucht nach dem Frühling auf einem Grat zwischen Genuss und krankhafter Verzehrung danach. Wer sich in einem einzigen Sehnen nach Wärme durch den Winter rettet, hat auch von diesem nichts.

Die Lebensvielfalt akzeptieren

Sehnsucht ist nicht nur nörglerisches Streben nach dem Andern. Sie ist auch eine Möglichkeit, die Lebensvielfalt zu akzeptieren und also die Tatsache, dass wir nicht immer alles jederzeit haben können. Eine Kunst der Vorfreude. Gerade ein milder Wintertag macht das deutlich, ein Tag voll warmer Sonnenstrahlen führt uns all das Sonnenglück vor Augen, das wir schon erlebt haben. Wär's immer warm, funktionierte das nicht. Genössen wir das Draussensitzen derart, das abendliche Flanieren im blossen Hemd, wenn es nicht ein paar Monate kalt gewesen wäre?

Unsere Sehnsucht nach Frühling ist keine Sehnsucht nach dem unerreichbaren Paradies, sondern die Vorfreude auf das reale Glück. Deshalb können wir nur hoffen, dass Max Frisch in diesem Fall irrte. Es sei nicht der Sinn einer Sehnsucht, schrieb er, dass sie sich erfülle.