Karl Barth
Safenwils roter Pfarrer: «Es kann und darf keine Selbstständigkeit neben Gott geben»

Vor 100 Jahren erschien die erste Fassung von Karl Barths «Römerbrief». Der Theologe wurde berühmt.

christoph bopp
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Kirche Safenwil (AG): «Der falsche Prophet ist der Pfarrer, der es den Leuten recht macht.» (Barth in einer Predigt).HO

Kirche Safenwil (AG): «Der falsche Prophet ist der Pfarrer, der es den Leuten recht macht.» (Barth in einer Predigt).HO

Heute segelt Karl Barth (1886–1968) weitgehend unterhalb des Radars der Öffentlichkeit. Unter Theologen ist sein Name noch bekannt, aber ob ihn noch alle Pfarrer kennen? Das war im letzten Jahrhundert anders. Barth war vielleicht nicht der berühmteste, aber sicher der umstrittenste Theologe des 20. Jahrhunderts.

In Basel geboren, in Bern aufgewachsen, empfing er als Student wesentliche Impulse aus Deutschland. Seine erste richtige Pfarrerstelle bekleidete er im aargauischen Safenwil (1911–1921). Dort eckte er in der einen Hälfte des Dorfes an, weil er dezidiert sozialdemokratisches Gedankengut vertrat und 1916 gar Mitglied der SP wurde, um in der anderen Hälfte im Arbeiter- und Bauerndorf dafür Zuspruch und Unterstützung zu erhalten. Schon damals hiess es: Keine Politik von der Kanzel – und schon gar keine linke!

Eine mutige Stimme

Im Zweiten Weltkrieg meldete sich der Pazifist und als «untauglich» ausgemusterte Barth 1940 freiwillig zum Militärdienst und beharrte darauf, nicht Bürodienst zu leisten, sondern dem bewaffneten Hilfsdienst zugeteilt zu werden. 104 Diensttage reichten aber nicht, um ihn zum Schweigen zu bringen. Er legte sich immer wieder mit der Zensur an. In einem Vortrag sagte er, Jesus Christus sei gewiss auch für Adolf Hitler gestorben und auferstanden, nicht ohne ausdrücklich hinzuzufügen, «dass gerade die Hauptfigur dieses Krieges ganz einfach ein kranker Mann ist».

Karl Barth (1886–1968), Theologe

Karl Barth (1886–1968), Theologe

KEYSTONE

Die Zensur verlangte, den Satz zu streichen. Auch in der Flüchtlingsfrage äusserte er sich dezidiert. Bundesrat Eduard von Steiger schrieb ihm, der Staat erlaube sich keine Einmischung in theologische Dinge, dürfe aber «doch die bescheidene Frage aufwerfen, ob gerade Sie dazu berufen sind, (...) die Aufgaben und Notwendigkeiten des schweizerischen Staates zu verfechten». Dies, weil Barth in früheren Jahren den Militarismus (nicht nur den deutschen) scharf bekämpft hatte. Im Kalten Krieg war Barth dann allerdings wieder auf der Seite der Abrüster und Pazifisten.

Karl Barth war nicht streitsüchtig. Aber er vertrat seinen Standpunkt ziemlich unbeirrbar. Und war deshalb umstritten – nicht nur in der Theologenzunft. Wenn andere ihm gegenüber auch so auftraten, war er manchmal erstaunt.

Diese Unbeirrbarkeit war auch verantwortlich, dass aus dem Landpfarrer ohne Doktortitel ein Professor der Theologie und später sogar der Professor der Theologie werden sollte. In Safenwil vertrat Barth unerschrocken Positionen der Sozialdemokratie: «Das, was sie wollen, (. . .) das wollte Jesus auch». Die Kirche müsse sich engagieren und den Mut haben auszusprechen: «die soziale Not soll nicht sein». Jesus und der Kapitalismus, das gehe nicht zusammen. Dabei legte er sich auch mit der mächtigen Safenwiler Fabrikantenfamilie Hüssy an.

Der Krieg als Wille Gottes?

Entscheidend für die theologische Entwicklung Karl Barths war der Erste Weltkrieg. Das, was auch Albert Einstein erschreckt hatte, verstörte ihn zutiefst: das «schreckliche Manifest der 93 deutschen Intellektuellen». Die Elite der deutschen Professorenschaft bekannte sich darin zum Krieg und zur Kriegspolitik von Kaiser Wilhelm II. und der deutschen Regierung. Dort die Namen seiner verehrten Lehrer lesen zu müssen, erfüllte ihn mit Entsetzen. Gott in den Krieg hineinzuziehen und ihn gar «heilig» zu nennen, das gehe nicht. Auch seine linken Überzeugungen gerieten ins Wanken, weil die deutsche Sozialdemokratie mit wenigen Ausnahmen ebenfalls für den Krieg votierte. Er unterschied jetzt Sozialismus und Reich Gottes klar voneinander.

Schon als Student hatte sich Barth mit der Frage beschäftigt, wie man als Theologe predigen, also zu den Leuten von Gott sprechen könne? Kritiker – auch sein Vater – hielten ihm damals vor, er solle jetzt zuerst einmal mit der Pfarrertätigkeit beginnen, bevor er solche Fragen in den Raum stelle. Aber die Enttäuschung über seine Lehrer brachte ihn dazu, zusammen mit seinem Freund Eduard Thurneysen auch das in Frage zu stellen, was er von ihnen mal gelernt hatte. Thurneysen habe ihm zugeflüstert: «Was wir für Predigt, Unterricht und Seelsorge brauchten, sei eine ‹ganz andere› theologische Grundlegung». Das muss im Sommer 1916 gewesen sein. Und Barth schrieb später, er habe am Tag danach «unter einem Apfelbaum» begonnen, den Römerbrief wieder zu lesen. «Ich begann ihn zu lesen, als hätte ich ihn noch nie gelesen; . . ..» Warum gerade dieser Brief des Apostel Paulus an die Römer? Er steht auffällig im Neuen Testament gleich nach der Apostelgeschichte. Paulus bietet hier den Christen in Rom sein Verständnis des Evangeliums in systematischer Form dar, das lässt sich als eine Art «Theologie» lesen. Der Römerbrief gab schon früher Anlass zu theologischen Neuanfängen (Augustinus und Luther). Und die Forschung vermutet im Römerbrief den letzten Text des Paulus, sein Testament gewissermassen.

Konsequent «von Gott aus»

Nicht fehlen darf das Diktum des katholischen Theologen Karl Adam: «Barths Römerbrief schlug gleich bei seinem ersten Erscheinen (...) wie eine Bombe auf dem Spielplatz der Theologen ein.» Das mag leicht übertrieben sein, aber Barths Kommentar war etwas grundlegend Neues. Bisher galt: In Predigt und Seelsorge soll der Pfarrer die Gemeinde zu Gott hinführen. Den Leuten erklären, wie sie die Bibel lesen müssten, um ihr Verhältnis zu Gott bestimmen zu können. Barth aber erteilt dem eine Absage. Gottes Handeln und menschliches Handeln ist strikt zu trennen. Das Reich Gottes kommt nur durch Gott allein, ohne Zutun des Menschen. Das hatte er vor ein paar Jahren noch anders gesehen. Aber nach der neuerlichen Lektüre des Römerbriefs kommt er zum Schluss: Alle menschliche Tätigkeit in der Welt hat nichts zu tun mit Gott. «Gott muss allein handeln, wenn es zu einer Erlösung kommen soll.»

Der Römerbrief machte Barth bekannt und führte zu seiner Berufung an die Universität Göttingen. 1921 wurde er dort Professor, der Beginn einer Laufbahn, die ihn an die Spitze der Theologie führen sollte. Zuvor aber war Barth zur Einsicht gelangt, dass er beim Römerbrief noch einmal neu ansetzen musste. Die erste Fassung sei «noch viel zu sehr auf Hurra! gestimmt», schrieb er an den Freund Thurneysen. Die zweite Fassung wurde in Bezug auf Mensch und Gott noch radikaler. Die Differenz zwischen Gott und Mensch ist kategorial. Gott ist «der ganz Andere». «Denn als der unbekannte Gott wird Gott erkannt.»

Das klingt abschreckend für diejenigen, welche Gläubige sein wollen. Man kann nirgends anschliessen. Auch der Glaube ist Gnade. Durch diese «strikte Trennung von Gott und Welt» sei Barth aber erst in die Lage gekommen, «kritisch auf die ‹Welt› zu blicken», schreibt Christiane Tietz in ihrer Barth Biografie.

Christiane Tietz: Karl Barth. Ein Leben im Widerspruch. C.H. Beck München 2018. 538 S., Fr. 48.90.