Ein Block Zartheit: Besuch auf der Alp bei einem der wenigen Schweizer Zigerhersteller

Reportage
Ein Block Zartheit: Besuch auf der Alp bei einem der wenigen Schweizer Zigerhersteller

Bild: Mischa Christen

Aus Molke fertigen die Käser auf der Sittlisalp Frisch-Ziger. Den gibt’s sonst nur im Zigerkrapfen. Das ist jammerschade.

Sabine Kuster (Text) und Mischa Christen (Bilder)
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«Und was ist das?», fragt die Wanderin in der Käserei. Sie zeigt auf einen weissen Block im Format von Feta. «Ziger», sagt die Frau hinter der Theke auf der Sittlisalp ob dem Schächental im Urnerland. «Aha! Also Schabziger?», fragt die Wanderin. Die Verkäuferin schüttelt energisch den Kopf und erklärt den weissen Block. Schon wieder.

Frischer Ziger ist in der Schweiz in Vergessenheit geraten. Er wird in der Deutschschweiz nur noch als Zigerkrapfen in Bäckereien verkauft – mal abgesehen von den sieben Detailgeschäften in der Region, die ihn als lokale Spezialität im Angebot haben. Und von der Käserei auf der Sittlisalp, wo die Wanderin steht und fragt, wie Ziger schmecke.

Frischziger im Verkauf von der Alpkäserei Sittlisalp in Unterschächen UR.

Frischziger im Verkauf von der Alpkäserei Sittlisalp in Unterschächen UR.

Bild: Mischa Christen

Ja, wie schmeckt etwas, das nach fast nichts schmeckt? Vielleicht schmeckt Zärtlichkeit so. Jedenfalls ist der Gout so sanft, dass es keinen Vergleich gibt. Ricotta kommt dem Ziger am nächsten, doch Ricotta enthält nebst Molke auch Rahm. Ziger ist geronnene Molke pur. Und Molke ist das Abfallprodukt der Käseherstellung. So wird es auch behandelt: Molke wird den Säuen verfüttert und für die Kälbermast verarbeitet. Ein weiterer Teil wird Biogas, Pulver für die Säuglingsnahrung und Milchserum für Rivella.

Früher im Überfluss, heute eine Rarität

Hier oben auf der Alp wird der Ziger hergestellt.

Hier oben auf der Alp wird der Ziger hergestellt.

Bild: Mischa Christen

Im Sommer, auf den Alpen, wird die Molke nicht selten ins Güllenloch geschüttet, denn die aufwendige Verarbeitung lohnt sich kaum, und irgendwann hatten die Sennen genug: Paul Hugger berichtet in einem Buch über Alpkäsereien aus dem Jura, dass der Ziger den Mitarbeitern im Sommer bis zur Übelkeit serviert worden sei. Zurück im Tal, haben die Sennen die weisse Zartheit wohl deshalb auch nicht gerühmt oder beworben.

Dabei könnte Ziger gerade bei Sportlern populär sein: Er enthält satte 25 Prozent Protein – und nur ein bis zwei Prozent Fett, denn das meiste ­wurde zu Käse verarbeitet. Ausserdem enthält Ziger viele essenzielle Aminosäuren, und er wurde schon Patientinnen bei Blutarmut verschrieben.

«Der Frisch-Ziger ging schlicht vergessen über die Jahre», sagt Toni Horat, 61 Jahre alt, Käser auf der Sittlisalp. Die wenigen, die schon auf den Geschmack gekommen sind, fahren bis ins Schächental, zweigen ins enge Brunnital ab und fahren mit der Seilbahn zu seiner Alp hoch. Die Wanderin stiess zufällig darauf. Und will jetzt wissen, was man mit dem weissen Klotz kochen könnte. Toni Horat isst ihn am liebsten «italienisch», grilliert im Ofen, nach dem Rezept seiner Frau Maria.

Frisch-Ziger mit Kräutern, serviert von Maria Horat auf der Sittlisalp im Urnerland.

Frisch-Ziger mit Kräutern, serviert von Maria Horat auf der Sittlisalp im Urnerland.

Bild: Mischa Christen

Rezepte von Maria Horat

Ziger, italienisch

Pro Person 220 g Ziger in ½ cm dicke Scheiben schneiden und auf einem Backblech verteilen.

Eine Marinade machen mit Olivenöl, Knoblauch, Basilikum, Salz und Pfeffer. Diese auf den Ziger verteilen und mit der Gabel den Ziger einstechen, eine Stunde marinieren.

Anschliessend ca. 15 Min. unter dem Grill bei 200 °C im vorgeheizten Backofen grillieren. Dazu passen diverse Kartoffelbeilagen.

Ziger-Curry

Pro Person 220 g Ziger in kleine Würfel schneiden.

Eine gut gewürzte Currysauce zubereiten. Zigerwürfel hineingeben, ¼ Std. in der heissen Sauce ziehen lassen. Mit Reis servieren.

Horat sagt, der Ziger habe Zukunft, nicht nur wegen des Proteins, sondern auch, weil er gut verdaulich sei: Das Protein, also Eiweiss, das er enthält, ist nicht das Casein, welches zu den häufigsten Auslösern der Milchallergie gehört. Das Casein bleibt im Käse, im Ziger gibt es davon nur 0,1 Prozent. Ziger enthält aber das Eiweiss Albumin, welches im menschlichen Blut ein wichtiger Transportstoff ist.

Die richtige Textur ist eine Herausforderung

Sérac heisst, der Ziger in der Romandie, und ist da noch bekannter. Eine krümelige und fettere Version von Frisch-Ziger aus der Romandie ist in der Migros und Coops der Deutschschweiz erhältlich. Die Herstellug ist knifflig, wenn man die richtige Textur, nicht zu nass und nicht zu trocken, erreichen will. Horat sagt:

«Früher gaben sich die Käser keine Mühe damit.»

Und die Produktion lohnt sich bei kleinen Mengen nicht: Es braucht 25 Liter Molke, um am Ende ein Kilogramm Ziger zu erhalten. Die Molke wird auf 90 °C ­erhitzt, und die Zugabe der richtigen Säuren führt schliesslich dazu, dass der Ziger ausflockt.

«Mir machte die Verschwendung Sorgen», sagt Horat, der auf der Sittlisalp von Juni bis September täglich bis zu 3500 Kilogramm Milch von 200 Kühen aus neun Bauernfamilien verarbeitet. Und er vertiefte sich schon als junger Käser in der Materie.

Die Leute wissen nicht mehr, wofür man den Ziger braucht

Heute stellt er jährlich 1,4 Tonnen Ziger für den Verkauf im Detailhandel her und 3,5 Tonnen für die Krapfen der Urner Bäckereien. Er ist ihr Hauptlieferant. Im Winter, wenn die Kühe im Tal sind, übernimmt die Käserei Seetal in Hämikon LU die Zigerherstellung. Dort fragt im Laden selber kaum jemand danach. «Wir packen manchmal Stücke ab, aber er wird nicht gekauft», sagt Daniela Lang. Und fügt an:

«Die Leute wissen nicht mehr, wofür man ihn brauchen kann, jedenfalls hier. In der Region Bern und in der Westschweiz ist er bekannter. Jene, die ihn kennen, sind begeistert.»

In der Zentralschweiz wird er nur als Zigerkrapfen an der Chilbi verspeist. «Man könnte viel mehr daraus machen», sagt Adrian Willimann, der in Hämikon den Ziger produziert. Er isst ihn gebraten und auch kalt, mit Öl und Kräutern, und sagt, selbst die Kinder würden ihn so mögen.

Bekannt ist, dass Ziger manchenorts geräuchert wird. Eine besondere Spezialität ist der Ziegen-Ziger laut der Online-Enzyklopädie «Kulinarisches Erbe der Schweiz». «Halten wir fest», heisst es da am Schluss, «aus der eher banalen geronnenen Molke kann man Schmackhaftes herstellen.»