Ich (w, 39) habe eine langjährige Freundin, wobei ich die Beziehung als zunehmend einseitig erlebe. Wenn ich etwas erzählen will, ist sie unaufmerksam und wechselt rasch zu eigenen Themen. Dabei prahlt sie, jammert aber zugleich oft über andere. Gehört sie zu den Menschen, die man offenbar als «Energie-Vampire» bezeichnet?
«Wenn jemand nach einem Abfalleimer sucht, um seinen Müll dort hineinzuwerfen, sollte das nicht dein Verstand sein.» (Dalai Lama)
Sie warten auf uns, suchen unsere Nähe und locken uns an, um uns dann leer zurückzulassen. Sie gefallen uns, wir bewundern sie und vertrauen ihnen mehr als anderen Personen. Wir erhoffen uns, etwas von ihrem Glanz zu erhalten, bekommen aber nichts: Das sind «Energie-Vampire». Sie wollen nicht Blut, sie wollen unsere emotionale Energie.
Energie-Vampir oder emotionaler Vampir sind natürlich keine wissenschaftlichen Begriffe. Das Phänomen dahinter lässt sich aber sehr wohl wissenschaftlich erklären: Der Mensch ist vor allem ein soziales Wesen. Wir sind auf gute Beziehungen angewiesen. Wenn wir diese gegenseitig pflegen, so erzeugt dies eine Reihe von Veränderungen im Gehirn, die die sozialen Beziehungen wiederum stärken.
Läuft die Beziehungspflege immer nur in einer Richtung, so erleben wir die Auswirkungen oft zuerst körperlich mit Müdigkeit, schweren Augenlidern, Spannungen im Körper, Konzentrationsproblemen usw., aber auch emotional mit Niedergeschlagenheit, Traurigkeit, Schuldgefühlen.
Warum Menschen «emotionale Vampire» werden, kann unterschiedliche Gründe haben. Oft haben diese Personen solche Persönlichkeitsmerkmale entwickelt. Solche sind bekanntlich relativ veränderungsresistent, besonders dann, wenn man mit Ratschlägen und Unterstützung herbei- eilt, die doch eine Verbesserung bringen sollten.
Am besten kann man sich natürlich gegen solche Menschen schützen, indem man sie meidet. Das ist ja nicht immer so einfach, etwa bei Familienmitgliedern oder am Arbeitsplatz. Ein erster Schritt ist, ihnen klare Grenzen zu setzen und mitzuteilen, was für Sie okay ist und was nicht.
Sinnvoll ist auch, sich selber zu befragen: Halte ich es aus, wenn es dem Gegenüber angeblich so schlecht geht? Oder verspüre ich vielmehr den steten Drang zu helfen und habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich es nicht tue? Versuche ich, es allen recht zu machen, auch auf meine eigenen Kosten? Lebe ich vom christlichen Leitsatz «Liebe deinen Nächsten …» nur den vorderen Teil und nicht auch die Voraussetzung dafür, nämlich «… wie dich selbst»?
Das bedeutet: Sorgen Sie gut für sich selbst, achten Sie darauf, dass Sie sich seelisch im Gleichgewicht befinden, und stärken Sie Ihr Selbstbewusstsein. Dann können Sie bei der nächsten Begegnung mit der Freundin besser unterscheiden, ob tatsächlich Ihre Hilfe gefragt ist oder ob Sie lediglich als Energie-Tankstelle dienen. Und ob Sie die Beziehung nicht vielleicht doch besser beenden oder zumindest eine Pause einschalten sollten.
* Dr. phil. Josef Jung ist eidg. anerkannter Psychotherapeut; www.psychotherapie-jung.ch