Das gestreifte Flanell-Pyjama hat ausgedient. Heute stellt der Mann seine Nachtwäsche individuell zusammen. Yvonne Forster
Das entrüstete Gesicht der älteren Dame vergisst man nicht so schnell. «Was! Ihr Mann schläft nackt? Wie unhygienisch! Da müssen Sie ja jede Woche die Bettwäsche wechseln.» Als ob dies nicht selbstverständlich wäre! Das Gespräch unter Frauen liess sich nicht vermeiden. Im Calida-Store an der Neugasse in St. Gallen stehen die Kundinnen Schlange. Es ist Ausverkauf, Gelegenheit, das längst fällige Pyjama für den Ehemann günstig zu ergattern. Wer gibt schon gerne Geld aus für etwas, das nur unter der Bettdecke getragen wird!
«Die Mehrheit der Männer-Nachtwäsche wird von Frauen gekauft», sagt Verkäuferin Maria Sigrist. Ihre Aussage wird von einer Kundin lachend bestätigt: «Mein Mann trägt ohnehin das, was mir gefällt.» Sagt's und holt ein langes Calida-Jersey-Pyjama mit elastischen Börtchen an Armen, Hüften und Beinen aus dem Regal. «Nachts kommt der praktische Aspekt vor dem Sex-Appeal. Zudem sind im Dunkeln alle Katzen schwarz.»
Hat sich die männliche Nachtwäsche noch immer nicht vom Image des Altbackenen befreit? Laut Statistiken ist nur jeder achte Mann ein Nacktschläfer. Von den restlichen 88 Prozent kaufen sich 15 Prozent ein langes Pyjama erst vor einem Spitalaufenthalt. Was tragen die anderen Männer? Ein geknöpftes Stoff-Pyjama aus gestreiftem oder kariertem Baumwollsatin, wie es Rock Hudson, David Niven oder Marcello Mastroianni in den Kinoklassikern zur Schau trugen?
Auf meine Spontan-Umfrage in St. Gallen antwortet ein 55jähriger Grafiker: «Wenn ich bei meiner Freundin übernachte, schlafe ich nackt, in meinem eigenen Bett trage ich aus lauter Gewohnheit ein Pyjama von Jockey mit einem Kurzarm-Shirt und einer kurzen Hose.» Ein Designer erklärt, dass er seine Pyjamas aus Zeitgründen nur übers Internet kaufe. «Ich suche immer noch nach dem wirklich schicken Modell. Am liebsten trage ich einen knopflosen, dunklen Baumwoll-Jersey-Schlafanzug mit langen Hosen und schlichtem Schnitt.» Ein pensionierter Bankangestellter bezeichnet sich als Herr der alten Schule. «Für mich kommt nur das elegante Streifen-Pyjama aus edlem Baumwollstoff mit geknöpftem Hemd-Oberteil in Frage.»
Die jüngere Generation fühlt sich im langen Jersey-Pischi eingeengt. Jeder fünfte Mann sieht sich laut Statistik am liebsten in einem ganz normalen T-Shirt, Boxershorts oder einem Slip. «Nachts vertausche ich meine weissen oder schwarzen Boxershorts gegen ein paar frische und ziehe dazu ein langes Baumwoll-Shirt an, im Sommer schlafe ich am liebsten oben ohne», sagt ein 21jähriger Fabrikangestellter. Ein Student bevorzugt ein weisses Rippenstrick-Unterhemdchen zu den Boxershorts. Wieder andere Jugendliche lassen die Hose ganz weg. Eines steht jedoch für viele fest: «Im Bett will ich nicht wie ein Strampelsack aussehen.»
Die Sitte, sich vor dem Schlafengehen in ein spezielles Gewand zu kleiden, kannte der Adel schon im 17. Jahrhundert. Unter dem Nachtkleid trug der Mann allerdings noch sein Tageshemd. Erst im 19. Jahrhundert fand die Mode der «alles verhüllenden Nachthemden» auch in bürgerlichen Schichten Verbreitung. Die Zipfelmütze tat ihr übriges, um jede Spur Erotik zu tilgen.
1905 kam das Pyjama in Mode. Der aus Indien stammende «Pajama» (übersetzt «Beinbekleidung») war erstmals Mitte des 17. Jahrhunderts nach Europa gekommen, geriet aber wieder in Vergessenheit. Erst als sich der britisch-indische Handel Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkte, blühte die Pyjama-Mode in Europa erneut auf. Zur leichten Hose wurde nun ein hemdartiges Oberteil mit Knopfleiste getragen.
Das herkömmliche Streifen-Pyjama aus aufgerauhter Baumwolle hat schon seit Jahren seine alte Popularität verloren. «Out» ist heute auch das warme Bündchen-Pyjama, mit dem Calida in den 50er-Jahren berühmt geworden ist. «In den 80er-Jahren erlebte der Klassiker einen letzten Boom, dann ging es bergab», sagt Yolanda Unger, Marketing- und Verkaufsmanagerin der Schweizer Wäschefirma Zimmerli in Aarburg. «Wie alles, musste sich auch die Nachtwäsche auf den heutigen Zeitgeist umstellen.» Die meisten Wäschefirmen haben sich dem Wandel angepasst und ihre Kollektionen modernisiert.
Mit Erfolg: «Der Pyjama-Markt ist nicht rückläufig, er hat sich nur verändert», sagt Robert Mascanzoni, Geschäftsführer von mehreren Schweizer Calida-Stores. «Das Pyjama ist salonfähig geworden. Heute kann der Mann im Outfit auch Gäste empfangen.»
Das Geheimrezept heisst «Mix & Match». Dabei werden Hosen und T-Shirts einzeln angeboten. So kann der Mann seinen Schlafanzug beliebig zusammenstellen. Mal zur kurzen Hose ein Langarm-Shirt (für Männer, die im Bett noch gerne lesen und an den Armen frieren). Mal kurze Hose und kurzes Shirt (für Männer, die unter den Daunen bald einmal zu warm haben) oder lange Hose zu Langarm-Shirt (für solche, die bei weit offenem Fenster schlafen). Mal kombiniert man gewobene Panties zum Feinripp-Shirt oder zum edlen Interlock-Hemd. Dann wieder sind die Shirts eng anliegend oder lose hängend.
Andreas Sallmann, Inhaber der Amriswiler Wäschefirma ISA, gibt zu bedenken: «Der Schlafanzug muss heute multifunktionell sein. Der Mann will morgens im Pyjama die Zeitung im Briefkasten holen, auf dem Balkon frühstücken und abends vor den Fernseher sitzen.» Deshalb dienen die langen Hosen und das T-Shirt auch als Homedress. «Die neuen Pyjamas sind bezüglich Muster, Farben, Schnitte und Materialien viel modischer geworden», sagt auch Marie-Therese Hablützel von der Boutique Hermo in St. Gallen.
Auch für Erika Dobler von der St. Galler Herrenwäsche-Boutique «Männerwelt» kann das klassische Pyjama nur als Homedress überleben. «Heute wechselt der Mann, wenn er aus dem Büro kommt, als erstes seinen Anzug gegen etwas Bequemeres. Keinen dicken Adidas-Trainer, sondern ein dünnes Sweatshirt und eine Hüfthose.» Oft diene diese Bekleidung auch zum Schlafen.