Physik
Schweizer Firma vermeldet bahnbrechenden Erfolg in Tschernobyl – doch ist das tatsächlich möglich?

Die Physik ist ein Spielfeld für Ideen, die sich nicht immer an die Gesetze der Wissenschaft halten. Jüngstes Beispiel: Eine Genfer Firma will Tschernobyl innert fünf Jahren von radioaktiver Strahlung befreien. Doch ist das tatsächlich möglich?

Niklaus Salzmann
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Geht es nach der Genfer Firma Exlterra, könnte in Tschernobyl bald wieder Leben einkehren.

Geht es nach der Genfer Firma Exlterra, könnte in Tschernobyl bald wieder Leben einkehren.

Bild: EPA/Keystone

Es könnte alles so einfach sein. Wir bräuchten bloss auf die richtigen Leute zu hören. Da ist zum Beispiel das Problem mit der Radioaktivität in Tschernobyl. 35 Jahre nach der Katastrophe ist das Gelände noch immer verseucht. Geht es nach der Genfer Firma Exlterra, könnte damit in fünf Jahren Schluss sein. Dazu muss nichts weiter getan werden, als ein paar tausend speziell geformte Plastikröhren im Boden zu vergraben.

Eine Lösung von schlichter Eleganz, aber ohne wissenschaftliche Logik. Die Form, die Länge und die Abstände der Röhren müssen genau stimmen, erklärte Frank Muller, CEO der Firma Exlterra, an einer Pressekonferenz im November. Das Ganze ist anscheinend so komplex, dass selbst gestandene Physiker die Wirkungsweise nicht nachvollziehen können. Horst Prasser, Professor für Nuklearphysik an der ETH Zürich, sagt, «dass die Beschreibung des Verfahrens die angebliche Wirkung in keiner Weise erklären kann».

Für Exlterra kein Grund, an der eigenen Methode zu zweifeln. Den Erfolg belegt die Firma mit Zahlen. Die Strahlung von drei Isotopen im Boden habe um durchschnittlich 46,6 Prozent abgenommen, diejenige in der Luft um 37 Prozent. Und das laut Pressetext in nur 12 Monaten. In der zugehörigen Grafik heisst es zwar «von 2019 bis 2021», was eher zwei Jahre wären. Aber selbst das wäre noch sensationell.

Eine Vergangenheit in Gefängnissen und im Stahlwerk

Die Messungen seien vom staatlichen Ökozentrum der Ukraine durchgeführt worden. Deren Generaldirektor sagt laut Pressemitteilung: «Das ist eine echte Hoffnung für das ganze Areal.» Die genaue Rolle des Ökozentrums nachzuprüfen, gestaltet sich allerdings schwierig, da der Generaldirektor kaum Englisch spricht. Mit der Firma Exlterra und deren Medienkontakt würde sich zwar eine gemeinsame Sprache finden lassen, E-Mail-Anfragen dieser Zeitung blieben trotzdem bis Redaktionsschluss unbeantwortet.

So erklärt die Firmenleitung die russischen Resultate aus Tschernobyl.

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Ohnehin müssen wir uns bei der Betrachtung der Firma Exlterra von der Fixierung auf die exakten Wissenschaften lösen. Andrew Niemczyk, das Genie hinter den Erfindungen, ist kein Akademiker. Laut einer in Buchform erschienen Biografie war er in elf Gefängnissen, floh aus dem kommunistischen Polen und arbeitete in den USA bei einem Automobilzulieferer und in einem Stahlwerk. Ein Gesprächsprotokoll auf der Website des Buchfestivals Detroit gibt Einblicke in seine Denkweise. Andrew Niemczyk scheint seine Inspiration in anderen Dimensionen zu holen:

«Nimm die Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, lege sie zu einem zusammen.»

Dass ihm da nicht alle folgen können, ist ihm bewusst. «Die Natur hat mich eingeschlossen mit einer Unfähigkeit, mich auszudrücken, weil ich für eine Mission hier bin», sagt er. Ein Glück für ihn, dass mit dem Genfer Ex-Banker Frank Muller jemand auf ihn aufmerksam wurde, der ihn scheinbar versteht und erst noch ein Gespür für Finanzen hat.

Andrew Niemczyk ist kein Einzelfall. Gerade in der Physik kommt es immer wieder vor, dass fachfremde Denker ein scheinbar enormes Potenzial entdecken, das der Fachwelt verborgen blieb. Dieses wollen sie in der Regel dann gewinnbringend für die Menschheit – und nebenbei fürs eigene Bankkonto – nutzen.

So machte ab Ende der Achtziger der indische Guru und Arzt Deepak Chopra mit der Quantenheilung von sich reden. Eine Erklärung dieser Methode war zum Beispiel vor vier Jahren im «International Journal of Complementary & Alternative Medicine» zu lesen: Mit positiven Gedanken liessen sich alle Krankheiten inklusive Krebs heilen. Dies dank Tunneleffekts, Quantenverschränkung und der Wandelbarkeit zwischen Energie und Materie. Alles Phänomene, die in der Physik gut bekannt sind, die aber aus naturwissenschaftlicher Sicht nicht mit der Spontanheilung von Krebs in Zusammenhang zu bringen sind.

Deepak Chopra Arzt und Buchautor

Deepak Chopra
Arzt und Buchautor

Bild: Keystone

Der Multimillionär schrieb 91 Bücher

Die Erläuterungen in besagtem Fachartikel stammen allerdings nicht von Deepak Chopra selbst. Er sagt inzwischen, seine Quantenheilung habe nichts mit Quantentheorie zu tun, das sei bloss eine Metapher. Erfolg hat seine Theorie trotzdem. Unter den 91 von ihm verfassten Büchern ist «Quantum Healing» ein Bestseller. Chopras Vermögen wird auf 150 Millionen Dollar geschätzt.

Während Chopra auf spiritueller Ebene wirkt, hat sich in den vergangenen Jahren ein Ungar namens Tibor Jakabovics mit der körperlichen Anwendung der Quantenmechanik beschäftigt. Daraus entstanden Produkte, die in esoterischen Kreisen unter der Bezeichnung Quantenkosmetik bekannt sind. Zum Beispiel der Spray Lavyl Auricum, dessen Name an das lateinische Wort «aurum» (Gold) erinnert, passend zum Verkaufspreis von rund 55 Franken für 50 Milliliter.

Der Spray soll unter anderem helfen, Schnittwunden zu heilen, er soll bei Entzündungen und Kopfschmerzen helfen, aber auch die Leistungsfähigkeit im Sport und das Konzentrationsvermögen von Studierenden erhöhen. Ein wahres Allheilmittel. Der Begriff «Heilmittel» ist allerdings in der Schweiz durch Swissmedic blockiert; um ihn zu verwenden, muss die Wirksamkeit diesem Institut gegenüber nachgewiesen werden. Einfacher ist es, schlicht «Kosmetik» statt «Heilmittel» auf die Produkte zu schreiben. Wenn das Produkt gleich doppelt wirkt, kosmetisch und heilend – umso besser.

Ein ähnliches System soll den Boden fruchtbar machen

Eine solche Doppelwirkung liegt letztlich auch der propagierten Lösung für die radioaktive Verseuchung in Tschernobyl zugrunde. Die Firma Exlterra hat zuvor bereits ein Produkt lanciert, um die Fruchtbarkeit von Böden zu erhöhen. Ganz ohne Dünger, sondern ebenfalls mit Kunststoffröhren, die vertikal im Boden platziert werden. Ein schöner Zufall, dass ein ganz ähnliches System auch gegen Radioaktivität wirkt. Eine Parallele, die nicht von Physikerinnen und Physikern entdeckt werden konnte, da sich diese nicht mit den Nährstoffen von Pflanzen auseinandersetzen. Da brauchte es ein ganzheitlich denkendes Genie, das sich nicht durch naturwissenschaftliche Grundsätze einschränken lässt.

Es würde nicht erstaunen, sollte sich herausstellen, dass sich mittels Kunststoffröhren im Boden auch die Luft von Aerosolen befreien lässt. Die Nachfrage wäre gerade ziemlich gross. Was ausgewiesene Fachleute davon hielten, wäre nebensächlich. Es gibt genügend Menschen, die sich um die Einschätzungen von ausgewiesenen Virologinnen, Infektiologen, Epidemiologinnen foutieren.