Kinder entwickeln erst im Primarschulalter ein Gefühl für die Zeit. All die Jahre zuvor umschwebt sie eine zeitfreie Magie. Was grossartig ist. Aber für Eltern ziemlich anstrengend.
«Wieviel noch?» Die beiden Buben stehen im Gang, nesteln hektisch an den Reissverschlüssen ihrer Jacken, versuchen gleichzeitig ihre Füsse in die Winterstiefel zu zwängen. «Wieviel noch?» Ich kenne die Frage mittlerweile, gucke aufs Handy. «Fünf Minuten.» – Aufatmen bei den beiden. Sie haben es auch schon in drei Minuten in die Schule und in den Chindi geschafft. Dann rennen sie los.
Erstaunlich: Noch nie hat sich die Kindergärtnerin oder ein Lehrer darüber beklagt, dass unsere Kinder zu spät gekommen wären. An Wochentag-Morgen scheinen die Buben die Zeit tatsächlich auf die Minute im Griff zu haben. Aber nur dann.
In den meisten anderen Fällen haben unsere Kinder so ihre Mühe mit der Zeit. Fährt das Postauto in zehn Minuten, haben sich die Buben an der Carrera-Rennbahn garantiert in einer Zeitschlaufe verloren, aus der sie nicht herauszubringen sind. Müssen sie fünf Minuten warten, bis der Leim trocken ist, drehen sie im roten Bereich. Um fünf Minuten später völlig vergessen zu haben, dass sie je irgendetwas zusammengeleimt haben.
Und wenn wir die Kinder bitten, aufs Klo zu gehen, weil sie gleich eine Stunde im Auto sitzen werden, warten sie doch lieber, bis der Motor läuft und die Gurten angeschnallt sind. Zeit? Mit Minuten, Stunden und so? Existiert nicht in einem unbeschwerten Kinderleben.
Kleinkinder entwickeln erst langsam vage Vorstellungen von Zeit – und erst ab fünf Jahren beginnen sie Sätze wie «Morgen ist gestern heute» zu faszinieren. Das noch fehlende Gefühl für Zeit hat bei unseren Kindern zu seltsamen sprachlichen Versuchen geführt, den Lauf der Dinge fassbar zu machen. Unser Siebenjähriger sagte am Ende des vergangenen Jahres:
«Dieses Jahr ist so schnell vorbei gegangen, wie wenn ein Gepard an einer Bakterie vorbeirennt!»
Gepard gleich schnell, Bakterie gleich klein, ergibt eine seltsame, aber rührende Zeitgleichung. Der Kleinere versucht’s schon gar nicht. Auf die Frage, seit wann er denn schon im Chindi sei, sagte er kürzlich:
«Seit 310 Liter eins-zwei-drei.»
Eine Aussage, mit der er seine Hilflosigkeit, vielleicht aber auch seine Gleichgültigkeit der Zeit gegenüber zum Ausdruck bringt.
Zeit ist etwas ziemlich Erwachsenes. Ein ökonomische Masseinheit, für Kinder weit dehn- und komprimierbarer als für uns Lebensroutiniers, die stets mit Zeitmessgerät unterwegs sind.
Natürlich ist im Internet zu erfahren, wie Eltern mit dem werdenden Zeitgefühl der Kinder umgehen sollen. Eine Auswahl an Tipps:
Alles ziemlich einleuchtend. Intuitiv werden das fast alle Eltern so machen.
Bleibt die andere Zeit-Frage: Weshalb vergehen die Kinderjahre gefühlt viel langsamer als später die Erwachsenenjahre? Entwicklungspsychologen erklären sich das so: Wer wartet oder einer Routinearbeit nachgeht, dem verstreicht die Zeit nur sehr langsam, danach in der Erinnerung fällt sie aber praktisch in ein Nichts zusammen.
Anders, wenn viel Neues, Aussergewöhnliches passiert: Dann ist der Moment kurzweilig, die Zeit rast – bleibt aber in der Erinnerung als grösserer Zeitabschnitt hängen. Für Kinder, die stets Neues erleben und aufsaugen und nie in Routine verfallen, vergehen die Tage zwar im Flug. Nicht aber die Kindheit als Ganzes, weil da so unendlich viel an Erlebtem und Gelerntem drinsteckt.
Hier ist die Erinnerung an Thomas Manns «Der Zauberberg» nicht weit, dem Werk, in dem der Schriftsteller vor rund 100 Jahren viele Überlegungen zu Zeit und Zeitempfinden anstellte. Mann formuliert das oben beschriebene Zeitgefühl bei zuviel Nichtstun oder Routine so:
«Wenn ein Tag wie alle ist, so sind sie alle wie einer.»
Gegen Ende des Buches, als sein Protagonist Hans Castorp nach sieben Jahren in der Sanatoriums-Eintönigkeit von Davos seine Zeit beim ewigen Patience-Kartenlegen immer weiter zusammenschrumpfen sieht, lässt Mann seinen Erzähler sagen: «Er wusste, was er sah: Das Leben ohne Zeit, das sorg- und hoffnungslose Leben, das Leben als stagnierend betriebsame Liederlichkeit, das tote Leben.»
Was nehmen wir als hundsgewöhnliche Eltern aus alldem mit? Wir sollten zwar hin und wieder versuchen, mit den Kindern in die sorglose Zeitloswolke zu steigen und die Uhr beiseite zu legen. Aber wir sollten es uns auf keinen Fall darin gemütlich machen, sondern als gutes Vorbild vorangehen und im Leben keine Routine zulassen. Ich werde es versuchen. Sobald ich Zeit dafür finde.
Ralf Streule lebt mit seiner Frau und seinen drei Söhnen (7 Jahre, 5 Jahre und 7 Monate) in Goldach. «Sie können nur Buben», sagt der Kinderarzt.