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Leben
China ist Corona und Italien ist Gelati. Das kindliche Bild der Welt ist noch ziemlich einfach. Ein Blick in den Setzkasten der Nationen.
Die Frage meines sechsjährigen Sohnes war harmlos und beiläufig: «Tragen Deutsche auch Pyjamas?». Er fragte das, als wir ennet dem Bodensee waren, wo er am Abend vor dem Schlafengehen eine Familie in den Bauch eines Segelboots kriechen sah – ohne Pischi. Die Frage amüsierte mich, ich beantwortete sie mit «ja, natürlich». Die Frage habe ich nicht mehr vergessen.
Das Interessante daran ist ja: Mein Sohn geht davon aus, dass auf der anderen Seite der Grenze die Schlafgewohnheiten anders sein müssen. Natürlich: Ein Kind muss sich sein Weltbild erst einmal aufbauen, es versucht der Einfachheit halber, gewisse Eigenschaften klar einer Nation zuzuordnen.
Iran ist: weisses T-Shirt im Fussball-Paninialbum. Österreich? Die rot-weissen Skifahrer, die man lieber verlieren sieht. Belgien? Die Frau des Cousins seines Papis. China? Corona. Italien? Ebenfalls Corona. Und eine Gelateria in der Toscana. Schweden? Pippi. USA? Ein schrecklicher Chef (wie Oma, Grosi und alle anderen Verwandten einhellig finden). England? Das Fussball-Shirt, das er von Papi erhalten hat. Deutschland? Das Land ennet dem See, mit Leuten ohne Pischi.
Tag für Tag ordnen die Kinder ein, legen Informationen ab wie in einen Setzkasten.
Der Setzkasten muss stabil sein, Ambivalenz verträgt das kindliche Ablagesystem kaum. Was Gefahren birgt. Dann nämlich, wenn von irgendwoher nur negative Klischees für den Setzkasten der Nationen angeboten werden.
Wie kann man verhindern, dass sich das Kind ein Weltbild voller Vorurteile macht? Oder anders gefragt: Wie füllt man als Eltern die kindlichen Setzkästen, ohne das Schubladendenken zu fördern? Vielleicht bringt es schon etwas, den Kindern das Lesen schmackhaft zu machen. Und das Reisen. Sei es auch nur ans andere Bodenseeufer.
Natürlich sollten wir Eltern Klischees nicht befeuern. Was gar nicht so einfach ist. Schliesslich bleiben die Bilder des Fremden auch für uns immer bruchstückhaft, schwammig. Und Neues über Unbekanntes wird an alten Klischees aufgehängt, schliesslich klammern auch wir uns ungewollt an möglichst stabile Setzkästen. Vielleicht reicht es ja bereits, den Kindern hier nichts vorzumachen.
Am besten ist wohl, wenn die Kinder lernen, dass auch ihr Weltbild für immer unvollständig bleiben wird und dass sie das Wacklige zulassen müssen. Und dass sie nicht alles für voll nehmen, was ihnen im Leben an Information angeboten wird. Nuancen des Fremden sollen sie später selber herausfinden. Wobei der Hinweis an meinen Sohn, er soll später einmal selbst herausfinden, ob Deutsche ein Pischi tragen, eine ungewollt schlüpfrige Note bekommt.
Immerhin hat die Frage meines Sohns mein historisches Pyjama-Wissen etwas vergrössert. Einerseits: Das Wort Pyjama stammt aus dem Persischen und galt ursprünglich als leichte Beinkleidung, wurde erst im 19. Jahrhundert in Europa zum Begriff für das zweiteilige Schlafkleid.
Die wichtigste Erkenntnis aber: 1922, als Deutschland und Russland sich im Vertrag von Rapallo nach dem Ersten Weltkrieg wieder näherkamen, hatte sich die deutsche Delegation in der Nacht vor der Vertragsunterzeichnung zu einem Treffen verabredet, was als «Pyjama-Konferenz» in die Geschichte einging.
Womit die Eingangsfrage definitiv beantwortet wäre: Auch Deutsche tragen Pyjama. Nicht, dass ich es aus eigener Erfahrung wüsste.
Ralf Streule lebt mit seiner Frau und seinen drei Söhnen (8 Jahre, 6 Jahre und 1 Jahr) in Goldach. «Sie können nur Buben», sagt der Kinderarzt.