Die «Grand Tour des Vanils» führt in elf Tagen durch den Regionalen Naturpark Gruyère Pays-d’Enhaut. Andere Wanderer trifft man kaum an, dafür erhält man Einblick in den Alltag der Älpler, in traditionelles Handwerk, isst Doppelrahm mit Meringue und natürlich Fondue.
Mit rotem Kopf und schweissgebadet stehe ich auf dem Sattel beim Soldatenhaus auf 1752 m ü. M. Der ruppige Aufstieg am zweiten Tag von Jaun zur Berghütte mit einem Rucksack, gepackt für elf Tage, und die hohen Temperaturen fordern ihren Tribut. Doch die Umgebung ist fantastisch. Da lohnt sich jeder Schweisstropfen. Zum Greifen nah sind zur Rechten die steilen, schlanken Felszähne der Gastlosen und Sattelspitzen. Nackte Granitfelswände. Hinter uns das tiefe Tal des Sattelbaches, eingebettet in unzählige weitere Bergrücken mit viel Gras und Wald. Vor uns öffnet sich das tiefe, breite Tal des Petit Mont. Und am Horizont die breite Felsformation des Vanil Noir, der mit seinen 2389 m ü. M. der höchste Freiburger Berg ist. Über seinem Berggrat verläuft die Grenze zwischen den Kantonen Freiburg und Waadt. Der Vanil Noir liegt mitten im Regionalen Naturpark Gruyère Pays-d’Enhaut.
Bergig, felsig und dazwischen immer wieder grüne Alpweiden mit einzelnen Alphütten. Was von hier oben sichtbar ist, ist prägend für die Region, in der die 160 km lange Wanderung «Grand Tour des Vanils» bestens ausgeschildert ist. Und gleichzeitig wird klar, warum die Tour diesen Namen trägt. «Vanil» hat nichts mit Vanille zu tun. «Vanil» heisst im Freiburger Patois, einem fast ausgestorbenem Dialekt der französischen Sprache, «Fels» oder «felsige Bergspitze». Viele Berge tragen das Wort in ihrem Namen. Wie viele es sind? «Unzählige», meint schmunzelnd ein lokaler Berggänger.
Ungezählt sind wohl auch die Fondues, die in dieser Region gegessen werden. Was wir in Charmey am Vorabend unserer Weitwanderung noch als «Touristenattraktion» und als Werbung, «Spezialität zum Dahinschmelzen», belächelt haben, ist hier in den Alphütten bei den Einheimischen auch in der heissen Jahreszeit beliebt. Freunde und Familien treffen sich auf dem Berg zum Fondue-znacht, bevor sie beim Eindunkeln wieder 300 bis 400 Meter hinunter zum nächsten Parkplatz steigen.
In der unbewirteten SAC-Hütte Les Marindes, drei Tagesmärsche von unserem Ausgangspunkt Charmey entfernt, bleiben jedoch die Berggänger zum Übernachten. Der ruppige Weg über 600 Höhenmeter durch das urtümliche, mit weissem Karststein übersäte Tal ist nur zu Fuss machbar. Oder mit Pferden, wie es der Älpler Bruno jeden zweiten Tag für zwei Laibe Greyerzer organisiert. Über einem Holzfeuer erwärmt seine rumänische Angestellte über 200 Liter Milch in einem riesigen Kupferkessel. Bruno gibt zwischen dem Melken der 38 Kühe Lab und Milchsäurebakterien dazu. Zwei Freiburger Teenager, die hier ihre Sommerferien verbringen, eilen dazwischen mit vollen Milcheimern in den nebenstehenden Raum, giessen die Milch in flache, grosse Gefässe, um sofort wieder in den angrenzenden Kuhstall zu gehen.
Am folgenden Morgen wird die Rumänin mit einem flachen Metallsieb den Rahm abschöpfen. Dickflüssig, zäh ist dieser Doppelrahm mit Meringue mehr als eine Sünde wert. Gewohnheitsbedürftiger ist er im Kaffee. Da esse ich ihn lieber als eine Art Praliné, so wie er in den Buvetten serviert wird, in einer Schokoladenkapsel.
Der Vanil Noir ist in Les Marindes, das auf 1868 m ü. M. liegt, zum Greifen nah. Die Felsformation schliesst dieses enge Tal abrupt ab. Für das Gipfelerlebnis braucht es auf dem blau-weiss markierten Bergweg, insbesondere beim tiefen V-Einschnitt des Bergrückens, Trittsicherheit. Wir sparen uns diese gut dreistündige Tour für ein anderes Mal auf. Dafür beobachten wir eine Herde Gämsen auf der linken Talseite im Abendlicht, geniessen die unkomplizierten Begegnungen mit der Hüttenwartin und anderen Berggängern.
Unterwegs auf den Tagesetappen, die bis zu sechs effektive Wanderstunden dauern, treffen wir dagegen sehr selten auf andere Wanderer. Wir sind alleine inmitten dieser bergigen Landschaft mit riesigen Alpweiden, den Bergzügen und den steilen, tiefen Tälern. Stille. Manchmal unterbrochen durch Kuhglocken. Zirpen der Grillen. Unser Atem. Momente ohne technischen Lärm und Motorengeheul. Nach den ersten Tagen haben wir uns an das morgendliche Rucksackpacken und das Tragen der Kilos gewöhnt. Der Alltag rückt mit den zurückgelegten Kilometern (und dank teilweise fehlendem Handyempfang) in die Ferne. Aus-Zeit. Wir sind in der Natur angekommen.
Ist der sehr gut markierte Weg mal etwas mit Gras überwachsen oder mit karstigen Steinen ruppiger, drückt die Hitze zu stark, lenken die Alpenflora und die Sicht über die vergangenen Wegstrecken zum Mont Blanc ab. Einfache Picknicke mit verschiedenen Käsesorten und Trockenwurst aus der Region am Wegesrand stärken. Die Bauernglace im B&B in Châteux d’Oex ist eine köstliche Abkühlung.
Dann und wann ein Älpler. Die aussergewöhnliche Trockenheit wird zur Last: «Wenn es nicht bald regnet, müssen wir wohl einen Monat früher die Alp verlassen», meint ein junger, gepflegter Bauer. Das wäre ein grosser Verlust für ihn, der den Käse Etivaz auf seiner Alp produziert. Etivaz, der etwas blumiger und cremiger als der Greyerzer ist, darf nämlich nur auf Alpwirtschaften ab 1000 Höhenmetern im Kupferkessel auf Holzfeuer produziert werden, wie es die Vereinigung aus rund 70 Älplern festgelegt hat.
Der Käse hat in dieser Region eine lange Tradition. Schon vor über drei Jahrhunderten wurde hier gekäst. Mit dem Export in die Genferseeregion und nach Lyon verdienten einige Käsebarone gutes Geld. Grosse, reich verzierte Holzhäuser zeugen davon. In Rossinière steht das «Grand Chalet» mit seinen über 100 Fenstern, im «Maison de la place» lässt sich auch übernachten. Es ist mit Fichtenschindeln gedeckt, wie so viele Alphütten im Naturpark. Das verwitterte, grau scheinende Holz passt sich harmonisch an die Farbe der Granitberge im Hintergrund an.
Der Wanderweg folgt nach Allières ein Stück dem historischen Käseweg zum Col de Jaman auf gut 1500 m ü. M. Auf dem Sattel und weiter entlang des Bergrückens Richtung Cape au Moine bietet sich ein grandioser Ausblick: über den Genfersee, das Lavaux bis weit über Lausanne hinaus und in die französischen Berge.
Der letzte Abend, der 1. August in der SAC-Hütte Bounavau. Nach zehn Tagen in dieser Region ist es nun auch für uns Zeit für ein Fondue, das wir uns in der Käserei in Montbonvon mischen liessen. Beim Essen beobachten wir durchs Fenster Gämsen. Eine Wanderin verteilt ihre mit einer Schweizer Flagge dekorierte Torte, auch wir bekommen ein Stück. Den Abschluss unserer Rundtour, die am folgenden Tag in Charmey endet, besorgt die Natur selbst: Ein riesiger Regenbogen spannt sich im Abendlicht über den Vanil Noir. Sein Gestein leuchtet in einem warmen Gold.
Grand Tour des Vanils: Seit 2018 führt eine gut ausgeschilderte Weitwanderung in elf Etappen durch den Regionalen Naturpark Gruyère Pays-d’Enhaut (total
160 km, knapp 10 000 Höhenmeter). Sie eignet sich für geübte Wanderer; der Abstieg nach L’Etivaz braucht Trittsicherheit. Ideal zwischen Juni und September, wenn die Alpen bestossen sind. Auch einzelne Etappen sind möglich, die meisten Orte sind mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut erreichbar. Charmey ist ein guter Ausgangspunkt.
www.gruyerepaysdenhaut.ch
Regionaler Naturpark Gruyère Pays- d’Enhaut: Voralpines Gebiet zwischen Bulle, Montreux und Gstaad in den Kantonen Freiburg und Waadt. 503 km2.
www.pnr-gp.ch
Verpflegung: Im Kanton Freiburg fast in jeder Alphütte möglich.
Übernachtung: u. a. Rossinière: B&B im 300-jährigen Chalet de la Place bei Eliane Pilet-Schopfer, Château d’Oex: B&B Le Berceau. www.chambresdhotesduberceau.ch, Cabane des Marindes, Cabane de Bounavau: SAC-Hütten am Fuss des Grand Vanil, Charmey: Hotel Le Sapin. www.hotel-le-sapin.ch.