Ein uralter Brauch lebt neu auf: das Verbrennen von wohlriechenden Kräutern und Harzen. Auch zu Silvester eignet sich ein Räucherritual, um das Haus zu reinigen und Platz für einen Neustart zu schaffen.
Ein bisschen kommt man sich vor wie in einem Hexenzirkel, wenn man das erste Mal im Dunkeln räuchert. Kerzenschein erleuchtet die Gesichter. In der Mitte steht eine feuerfeste Schale, mit Sand gefüllt. Zündet man darauf eine Kohletablette an, zischt sie leise. Dann bröselt man aromatische Substanzen auf die Glut: Rosenweihrauch, Salbei, Mandarinenschalen. Und versinkt in einer Wolke aus Duft und Rauch.
Das Räuchern ist ein Silvesterbrauch. Eine stimmungsvolle Alternative etwa zum Bleigiessen. Das Verräuchern von Kräutern und Harzen ist uralt: Selbst in 60'000 Jahre alten Gräbern von Neandertalern fand man Kräuter und Blüten. Man nimmt an, dass unsere Vorfahren um das Feuer herumsassen und duftende Holzrinden, Kräuter, Samen und Zweigspitzen in die Flammen warfen, um die Götter milde zu stimmen. Später räucherte man, um Fleisch haltbar zu machen, Kleider zu parfümieren oder auch um Wendepunkte des Lebens wie Hochzeiten, Taufen und Begräbnisse zu zelebrieren. Zu Zeiten der Pest wurde besonders viel geräuchert. Lange Zeit wurden auch die Krankenhäuser mit keimtötenden Kräutern ausgeräuchert.
Jetzt wird die Tradition des Räucherns neu entdeckt. Mit Voodoo und Räucherstäbchen hat das alles nichts zu tun. In allen Kulturen wird geräuchert: im Orient, in Indien, in Tibet. Auch die katholische Kirche versteht es seit jeher, mit Weihrauch und Myrrhe die menschlichen Sinne zu benebeln. Diesen Gerüchen wird eine bewusstseinserweiternde Wirkung zugeschrieben: Weihrauch enthält Wirkstoffe, die Angstzustände und Depressionen lindern sollen.
Auch in ländlichen Gebieten wie dem Allgäu und Appenzellerland kennt man den Brauch: Die Bauern geben getrocknete Sommerkräuter oder eine Handvoll Weihrauch auf glimmende Holzkohle, die in eine Pfanne gelegt wird. Der aufsteigende Rauch verteilt sich in Stube, Scheune und Viehstall. Mensch und Tier sollen so von bösen Geistern befreit werden. Früher war es eine Frage der Existenz, das Vieh gesund durch den Winter zu bringen.
Kathrin Löw räuchert seit 30 Jahren und erteilt Kurse über das Räuchern in den Raunächten. «Der aufsteigende Rauch ist ein Symbol für die Vergänglichkeit und hilft loszulassen», sagt die Frau mit den langen weissen Haaren. «Probleme können sich in Rauch auflösen.» Löw empfiehlt zum Silvester ein geselliges Ritual: Jeder darf ein paar Kräuter zerkrümeln und auf der Kohletablette verglühen lassen. Steigt der Rauch auf, sagt man, was man loswerden will vom alten Jahr. Zum Beispiel seine Unpünktlichkeit, seinen Neid, das Rauchen oder ein anderes Laster. In einer zweiten Räucherrunde darf sich jeder etwas wünschen fürs neue Jahr.
«Dieses Ritual hat eine besondere Kraft, wenn man es gemeinsam macht», sagt Kathrin Löw. «Dadurch verleiht man seinen Absichten und Wünschen zusätzliches Gewicht.» Das Wissen sei nicht das Wichtigste beim Räuchern – sondern das Tun und Ausprobieren. Löw stellt Räuchermischungen her, die sie in ihrem esoterischen Laden Kaleidos in Herisau verkauft.
Man kann die Räucherzutaten aber auch bei einem Wald-und Wiesenspaziergang selber sammeln, wie es Kräuterfrau Gabriele Kanonier im österreichischen Dornbirn tut. «In unseren Breitengraden wachsen 40 Pflanzen, die sich super eignen zum Räuchern», weiss die 57-Jährige. Neben den Bahngleisen pflückt sie im Sommer etwa die hellgelben Königskerzen. «Diese Blüten beseitigen Stress und Disharmonie im Büro», ist sie überzeugt. «Ich glaube daran, dass sich das Wesen der Pflanze im Rauch nochmals entfaltet.»
Die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr eignen sich besonders für ein Räucherritual. Das Rad der Zeit steht still. Die Natur hat sich fürs Nichtstun entschieden und sammelt ihre Kräfte. Es ist die Zeit, in der viele Menschen innehalten, Rückschau halten – es ist die Zeit der Raunächte. In diesen Tagen, so glaubte man, könne man Tiere, Geister und Ahnen sprechen hören. Die Raunächte dauern vom 25. Dezember bis zum Dreikönigstag am 6. Januar – eine Zeit der Orakel und Wahrsagerei. Auf keinen Fall solle während dieser Zeit gesponnen oder genäht werden, hiess es anno dazumal. Dies täten nur die Hexen. Und man solle auf seine Träume achten. Denn alles, was in diesen Tagen geschehe, lege den Samen für das kommende Jahr.
Kräuterfrau Gabriele Kanonier mistet ihr Haus aus, schmeisst Ballast weg und fokussiert sich auf das, was sie noch verwirklichen will. «Jetzt schaffe ich Platz für Neues.» An Silvester wird die dreifache Mutter ihr Haus räuchern – so wie es als kleines Kind von ihrer Oma, einer Bauersfrau, gelernt hat.
«Räuchern ist ein energetisches Reinigen von Räumen. Der Rauch bringt Klarheit. Das haben schon unsere Ahnen gewusst.»
Allerdings müsse man vorher aufräumen. «Es bringt nichts, über das Chaos zu räuchern. Da setzt sich der Rauch nur fest.»