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Das Coronavirus stellt alles auf den Kopf. Nicht nur den Alltag, sondern auch die Vorstellungswelt vieler Kinder.
Am Mittwoch nach dem Nachtessen überraschte der 6-Jährige mit einem unerwarteten Vorschlag: «Papa, wir sollten jetzt nach China zügeln!» Am Tag zuvor schon hatte er die Grenzen des Riesenreichs auf der Weltkarte gebannt studiert. Irgendwo hatte er aufgeschnappt, dass die Corona-Fallzahlen in China praktisch auf null gesunken sind und dass die Kinder dort vielerorts wieder in die Schule und in den Kindergarten gehen.
Seither ist China in seiner Vorstellung zu einem gelobten Land geworden: Neben einer sehr tiefen Ansteckungsrate gibt es dort nämlich auch viele Panda-Bären (sein Lieblings-Kuscheltier) sowie unzählige Kung-Fu-Kämpfer, die für Action sorgen, wenn es einmal langweilig werden sollte.
Nun, da die Wahrscheinlichkeit relativ klein ist, dass wir bald in ein Flugzeug steigen und nach Schanghai fliegen, befassen wir uns mit dem völlig neuen Alltag, der uns wohl noch einige Wochen in Bann halten wird: Papa und Mama oft zu Hause, die Kinder immer.
Man muss da nichts schönreden. Die Würze in menschlichen Beziehungen liegt ja gerade auch darin, dass man nicht ständig aufeinander hockt, sondern in die Welt ausschweift, Sachen erlebt und die anderen, die man besonders gerne hat, dann daran teilhaben lässt. Das ist jetzt alles nur noch in sehr beschränktem Masse möglich.
Die Umstellung ist vor allem für den 8-Jährigen gross: Keine Freunde mehr treffen, der Tennisplatz, sein liebstes Hobby, für Wochen geschlossen, jeden Tag sich von Neuem aufraffen, um sich am Morgen zwei, drei Stunden hinter die Hausaufgaben zu setzen, die er vor einer Woche in der Schule abgeholt hat - mit 2-Meter-Sicherheitsabstand zu seinen Schulfreunden.
Am Dienstag hat ihn seine Lehrerin angerufen und gefragt, wie es denn im «Home-Office» laufe. Eigentlich ganz gut! Aber dennoch wollen wir uns lieber nicht vorstellen, wie das alles würde, sollte der Bundesrat beschliessen, die Schulschliessungen bis im Sommer zu verlängern.
Zunehmen würden in diesem Fall mit Sicherheit auch die existenziellen Fragen, wie sie der Grössere zuweilen stellt. Er weiss zwar, dass ihm das Coronavirus nach allen bisherigen Erkenntnissen der Forschung kaum etwas anhaben kann, dennoch fragt er zuweilen; «Papa, bist du sicher, dass das Coronavirus die Menschheit nicht ausrottet?» Ja, da bin ich mir sehr sicher.
Herzzerreissend sind im Moment auch Ausrufe wie «warum muss das ausgerechnet in meinem Leben passieren!» Hunger, Pest, Krieg, Armut, Arbeitslosigkeit: Da hilft manchmal ein kleiner relativierender Rückblick in die Geschichte. Fast alle Generationen hatten bisher mit grossen Herausforderungen zu kämpfen, unsere bisher kaum - zumindest nicht mit so unmittelbaren wie der Corona-Krise.
Und ja, es gibt sie natürlich auch: Positive Momente in diesem herausfordernden Familien-Alltag: Man hat als Eltern plötzlich sehr viel Zeit, schaut kaum je auf die Uhr, wenn man mit den Kindern spielt. Es kommt überhaupt nicht darauf an, ob man jetzt auch noch ein drittes oder viertes Mal mit dem Schellenursli-Leiterlispiel anfängt und das Abendessen erst um 20 Uhr stattfindet.
Der Freizeitstress entfällt völlig, die meist so dicht verplanten Wochenenden liegen plötzlich als grosse unbeschriebene Blätter vor einem, wo nichts fix, aber vieles möglich ist - halt nur in den eigenen vier Wänden oder vielleicht noch im eigenen Garten. Aber immerhin.
So haben wir diese Woche früh noch halb unter der Bettdecke, als niemand auf Arbeit oder in die Schule hetzen musste, im Forscherbuch gelesen, dass das Universum 13,8 Milliarden Jahre alt ist. Das fanden nicht nur die Kinder erstaunlich.
Solche Zeitdimensionen haben angesichts der akuten Krise auch etwas Beruhigendes. Die Menschheit wird diese Herausforderung meistern. Auch wir Schweizer. Deshalb müssen wir noch lange nicht nach China auswandern.
Jürg Ackermann lebt mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen (8 und 6) in St. Gallen.