Der erste Skitag der Saison ist voller Zauber. Vor allem dann, wenn er lange ersehnt wurde. Kaum etwas lässt Eltern mehr staunen als die Fortschritte der Kinder auf zwei Brettern.
In der Gondelbahn von Laax nach Curnius schaute der ältere Sohn etwas ratlos zum Fenster hinaus, während unten die zunehmend verschneite Landschaft vorbeiglitt. «Du, Papa, ich weiss nicht, ob das noch geht. Ob ich auf den Ski überhaupt noch einen Bogen machen kann.» Das war am letzten Samstag kurz vor elf Uhr. Fast acht Monate waren vergangen, seit wir zum letzten Mal auf den Brettern standen. Eine lange Zeit – und irgendwie doch so kurz.
Kaum etwas dokumentiert das Heranwachsen so genau wie die Fortschritte beim Skifahren. Kaum etwas lässt einen als Eltern derart staunen. Es braucht für viele Kinder Überwindung, sich das erste Mal auf die Ski zu stellen und später eine richtige Piste hinunterzufahren. Doch dann ist sie plötzlich da und verschwindet in der Regel nicht wieder: Die Freude am Gleiten, an der Geschwindigkeit, am klickenden Geräusch, wenn der Skischuh in der Bindung schnappt.
Skifahren gehört im Grunde genommen – ähnlich wie Radfahren – zu den unerklärlichen Dingen. Der Körper scheint die Bewegungen auf fast schon geheimnisvolle Art zu speichern. Er weiss auch noch nach langer pistenloser Zeit, was es braucht, um eine Kurve zu machen oder über eine Buckelpiste zu fahren. Die Sorgen am ersten Skitag, ob alles noch klappt, sind darum meist schnell verflogen. So fühlte sich auch am Samstag bereits die dritte Abfahrt ähnlich an wie im letzten Winter. Und wenn es dann so flott geht und Sicherheit und Rhythmus zurückkehren, ist der Übermut nicht weit.
So kam es, wie es kommen musste. Um 15.53 Uhr hopsten wir nach kurzer Mittags- und ebenso kurzer Zvieripause auf der Crest la Siala vom Sessellift. Diese eine Abfahrt musste einfach noch sein. Die beiden Söhne steckten oben am Hang die Stöcke in den Schnee, wippten mit dem Oberkörper leicht vor und zurück, verkündeten: «Jetzt machen wir’s wie Beat Feuz» und klemmten die Stöcke unter den Arm.
Im ersten Hang ging noch alles gut. Doch dann kam die Piste, die schon ziemlich zerfahren war. Der ältere versuchte nach ein paar Schwüngen über einen kleinen Hügel zu springen, kreuzte in der Luft die Ski, ehe er auf seinem Hinterteil den Hang hinabrutschte. Der Jüngere war von diesem Vorgang derart beeindruckt, dass er sich nicht mehr auf seine Fahrt konzentrierte, ebenfalls einen Hügel übersah und seine Ski plötzlich irgendwo waren, nur nicht mehr an seinen Füssen.
Irgendwie schafften wir es doch noch rechtzeitig nach unten und mit der letzten Sesselbahn punkt 16 Uhr wieder hoch, ehe uns die grosse Gondel ins Tal nach Laax brachte und mir klar wurde: Kinder brauchen nicht 120 Pistenkilometer, um glücklich zu sein. In Laax waren am Wochenende zwei Sessellifte beim Crap Sogn Gion offen, doch diese Beschränktheit war gerade das Wunderbare. Wir kurvten praktisch den ganzen Tag auf den zwei gleichen blauen Pisten zur Alp Dado hinunter und wären noch viel länger gefahren, wenn nicht schon bald die Dunkelheit über der Surselva eingebrochen wäre.
Einer, der darüber wie kaum ein anderer Bescheid weiss, ist Arno Camenisch, der wohl beste Skifahrer unter den Schriftstellern. Nur ein paar Kilometer weg vom Crap Sogn Gion ist er aufgewachsen, unten im Tal in Tavanasa. Camenisch sagte einmal, beim Sport und damit auch beim Skifahren gehe es letztlich «um Magie, um ein Flimmern, das wir nicht greifen können.» Und auch darum: Am Schluss mit sich im Reinen zu sein, weil man alles gegeben hat.
Das war uns irgendwie schon früher klar. Was waren das für Zeiten, als wir mit unseren Eltern in den 1980er Jahren an den Bügelliften im Appenzellerland oder später in Davos das Skifahren lernten. Als es viel zu schnell 16 Uhr wurde und die Lifte wieder abstellten.
Es gab damals noch keinen Zauberteppich, der die Kleinen heute bequem wie auf einer Rolltreppe den Übungshang hoch bringt. Es gab noch keine Carving-Ski, die es mit ihrer Taillierung so viel einfacher machen, ein Gefühl für Kurven zu entwickeln.
Und es gab vor allem noch viel mehr Zeit, sich auf die nächste Abfahrt zu freuen, weil die entschleunigten Bügellifte von damals gefühlte vier Mal langsamer den Berg hochtuckerten als die heutigen Sessellifte mit ihrer «Füdli»-Heizung und der Haube gegen Wind und Schnee. Als ginge es beim Skifahren nicht auch darum: Den kalten Wind oder die Schneeflocken im Gesicht zu spüren, wenn sie denn schon einmal vom Himmel fallen.
Aber vieles, das Wichtigste ist gleich geblieben. Das Glück, hoch und vor allem runter zu fahren. Immer wieder. Und dann noch einmal.
Jürg Ackermann lebt mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen (8 und 5) in St. Gallen.