Schwester Simone, Priorin des Klosters Heiligkreuz, ist eine der mächtigsten Frauen in der katholischen Schweiz. Sie fordert mehr Gleichberechtigung, warnt vor zu hohen Erwartungen und Kollektivschuld.
Es war ein weiteres Eingeständnis: Noch vor der Missbrauchskonferenz letzte Woche gab Papst Franziskus zu, dass auch Ordensfrauen von Priestern missbraucht worden seien. Und dies geschehe wohl noch immer, sagte der Pontifex. Ist das auch in der Schweiz passiert? Das wollten wir von Schwester Simone wissen. Sie ist Präsidentin der Vereinigung der höheren Ordensoberinnen der deutschsprachigen Schweiz und Liechtenstein. Was sagen Frauen in der katholischen Kirche zu übergriffigen Priestern? Schwester Simone führt in ein Sitzungszimmer des Klosters Heiligkreuz in Cham. «Dann schiessen Sie mal los», sagt die Benediktinerin, beugt sich vor und faltet ihre Hände vor sich auf dem Tisch.
Sie sind als Präsidentin der Ordensoberinnen eine der mächtigsten Frauen in der katholischen Kirche. Doch höhere Ämter bleiben Ihnen verwehrt, weil Sie eine Frau sind.
Schwester Simone: Es ist ein Skandal, dass viele Männer in der katholischen Kirche die Frauen lediglich als kaum vorhanden behandeln – ausser, sie dienen ihnen. Diese männliche Hierarchie in der Kirche ist stossend. Als ich dreissig Jahre jünger war, fand ich es furchtbar. Heute sehe ich, dass in gewissen Ortskirchen Frauen gleichwohl etwas bewirken können.
Haben Sie sich gegen die patriarchalen Strukturen aufgelehnt?
In Diskussionen schon. Aber ich bin von Natur aus nicht militant. Ich bin gerne Ordensfrau und finde, wir Frauen besitzen viele gute Fähigkeiten, die wir auch so einbringen können. Persönlich möchte ich nicht Priesterin werden. Dass das Amt grundsätzlich den Frauen verwehrt bleibt, ist zwar kirchenrechtlich legitimiert. Aber Gesetze liessen sich ändern, dazu ist es höchste Zeit.
Papst Franziskus hat kürzlich eingestanden, dass wohl bis heute Ordensfrauen durch Priester missbraucht werden. Wie ist die Situation in der Schweiz?
Ich habe in der deutschen Schweiz noch nichts gehört.
Gab es Nachforschungen?
Nein, meines Wissens nicht. Ich glaube aber nicht, dass es hier Vergewaltigungen von Ordensfrauen durch Priester gab.
Frauen, die sexuelle Gewalt erfahren haben, sprechen selten über ihre Erlebnisse. Können Sie dann darauf vertrauen, dass Sie davon hören?
Es gibt auch physische Zeichen oder psychische Verhaltensveränderungen, die darauf hinweisen, wenn etwas nicht stimmt. Wir hatten früher Seminaristinnen, die als Kinder von Familienangehörigen missbraucht wurden. Wenn die jungen Frauen dazu bereit waren, suchten wir mit ihnen das Gespräch und boten ihnen Hilfe an. In allen grösseren Klostergemeinschaften finden sich zudem Ordensfrauen, die in ihrer Kindheit missbraucht wurden. Sie wählten das Klosterleben – vielleicht weil sie sich dort sicherer fühlten. Es gibt durchaus Anzeichen, die einen hellhörig machen.
Am vergangenen Sonntag ist eine Konferenz zum Missbrauch innerhalb der Kirche zu Ende gegangen. Die Opfer sind enttäuscht, da konkrete Massnahmen ausblieben. Wie sehen Sie das?
Die Erwartungen an die Konferenz waren sehr gross. In diesem Rahmen konnten sie kaum erfüllt werden, dies muss in den Ortskirchen geschehen. Für mich steht es ausser Frage, dass diese Abscheulichkeiten aufgedeckt und untersucht werden. Die Opfer müssen die Gelegenheit bekommen, angehört zu werden. Die Missbräuche sind ein Skandal. Ich störe mich aber an der einseitigen Fokussierung in der Öffentlichkeit. Heutzutage denkt, wer Kirche sagt, nur noch an Missbrauch. Das bedauere ich ausserordentlich und empfinde es als ungerecht.
Die Kirche hat zu lange geschwiegen und es verpasst, dagegen vorzugehen.
An den Bischofs- und Ordenskonferenzen sind die Missbräuche das Thema Nummer eins. Es ist sehr viel Betroffenheit da. Viele sind überfordert mit diesem Flächenbrand. Es braucht seine Zeit, um einen Umgang damit zu finden und zu Lösungen zu kommen.
Inzwischen liegt das Thema seit Jahrzehnten auf dem Tisch.
Aber nicht in dieser Intensität. Jetzt werden ernsthaft Möglichkeiten gesucht, um Missbräuche zu verhindern. Aber ein Mensch ist ein Mensch. Trotz allen Gesetzen lässt es sich nicht verhindern, dass es Diebe oder Mörder gibt. Die Barriere, die Papst Franziskus bezüglich Missbräuche nun setzt, ist aber hoch.
Was ist denn diese Barriere?
Dass darüber gesprochen wird.
Das reicht? Was ist mit Kontrollen, Nachforschungen oder dem Aufzeigen von Konsequenzen?
Es weiss inzwischen jeder, dass solche Übergriffe Konsequenzen haben. Wenn wir nicht einen Polizeistaat wollen, dann reicht es, wie zum Beispiel die Schweizer Bischofskonferenz und die Ordenskonferenzen die Problematik angehen. Lösungen müssen vor Ort gesucht werden. Weltweite Regeln funktionieren nicht, wie der Vatikan sie anstrebt. Das ist eine völlige Überforderung, weil die Verhältnisse zu unterschiedlich sind. Mir tut es nun auch leid um all die Ernsthaftigkeit der Priester, die als Seelsorger wertvolle Arbeit leisten und inzwischen allesamt unter Generalverdacht stehen.
Haben Sie auch schon Misstrauen gespürt?
Nein, aber ich erfahre immer wieder herablassendes Mitleid, weil ich der katholischen Kirche treu bleibe. Das wird manchmal auch deutlich gesagt.
Verletzt Sie das?
Nein. Ich glaube an die Kirche.
Was lässt Sie so stark an die Kirche glauben?
Die Kirche lebt durch Christus. Das klingt rasch frömmlerisch, aber für mich ist es Lebensinhalt. Ich glaube an die Kirche, die in der Nachfolge Christi steht. Das ist nicht unbedingt in allen Teilen identisch mit der Amtskirche. Die Kirche jedoch, die Christus gestiftet hat, war und ist die Verbindung von Menschen, die miteinander Gott suchen, sozial tätig sind. Das ist die eigentliche, geistige Kirche, die Menschen erfüllt und sie zu Gott führt. An sie glaube ich unerschütterlich.
Macht es Sie wütend, dass andere Ihre Kirche in den Schmutz gezogen haben?
Ich sehe die Thematik der Missbräuche nicht nur in Bezug auf die Kirche. Ich will wirklich nichts entschuldigen, weiss aber, dass sie überall in der Gesellschaft passieren: In der Geschäftswelt, im Filmbusiness, im Sport, in Schulen und in Familien. Nur wird es unterschiedlich gewertet. Einzig die Kirche wird kollektiv verurteilt.