Es ist die Wiedereröffnung der Berge: In den ersten Hütten kann wieder übernachtet werden. Doch kann man sich in den kleinen Alphütten vor dem Coronavirus schützen? Wir haben die Täschhütte besucht.
Die Luft ist warm an diesem 15. Mai. Neben mir an der Tramhaltestelle stehen Tourenski, im Rucksack sind Steigeisen, vier Hygienemasken und ein Fläschchen Desinfektionsmittel. Ich starte zu einer seltsamen Skitour.
Zwei Monate lang hatte ich mit Fernweh zu den Gipfeln geschaut. Dann, unverhofft, eine letzte Chance für eine Skitour: Die Wiedereröffnung der Berge beziehungsweise der Berghütten vor einer Woche. Der Schnee hat sich auf 3000 Meter zurückgezogen, und da die Bergbahnen noch nicht fahren, muss die Ski tragen, wer ein Stück Winter erhaschen will.
Ich frage den Bergtouren-Anbieter Berg+Tal, ob ich auf ihre erste Tour nach dem Lockdown mitgehen kann. Ich will wissen: Wie geht das mit der Hygiene in den Hütten? Am 14. Mai öffnet die Täschhütte in der Region Zermatt. Trotz des regnerischen Wetters melden sich drei weitere Teilnehmer.
Der Zug nach Visp ist locker besetzt an diesem Freitag, ein SBB-Angestellter putzt die Griffe entlang der Gänge. Am Bahnhof Täsch streckt ein Teilnehmer zur Begrüssung die Hand aus.
Sie bleibt mit entschuldigenden Worten des anderen im Leeren hängen. Zu sechst inklusive Chauffeur setzen wir uns ins zehnplätzige Bergtaxi. Mit Abstand, aber ohne Maske. Jemand wird später sagen, sterben müsse man so oder so, mit oder ohne Coronavirus. In der Hütte tritt niemand gleich zum Desinfektionsspray. Kümmern sich die ersten, welche in die Berge stürmen, nicht um die Hygieneregeln?
Der erste Eindruck täuscht. Beim Apéro wird klar: Die drei Alpinisten und der Bergführer sehen die Sache pragmatisch, aber sie finden die Vorschriften in Ordnung und halten sich daran.
Im Schlafraum ist jedes zweite Bett abgesperrt. In den Waschräumen sind nur zwei respektive drei Personen aufs Mal zugelassen.
Im Essraum ist jeder zweite Tisch abgesperrt. Statt dass Schüsseln auf den Tisch gestellt werden und die Gäste selber aufdecken, geht es zu und her wie im Restaurant: Die Hüttengehilfin serviert die Teller mit Mundschutz. So wird vermieden, dass die Teller von Hand zu Hand wandern.
Die Hüttenwartin Renata Schmid erzählt, wie sie Kübel mit Tret-Mechanismus zur Hütte hochgetragen habe und Plexiglasscheiben für die Durchreiche auftrieb, um zwei von vielen Vorschriften zu erfüllen. Sie sagt:
«Ich bin froh, dass wir wieder offen haben. Ob es sich rechnet, sehen wir am Ende der Saison.»
Von 78 Schlafplätzen kann sie maximal 43 besetzen. Viele andere Hütten werden nicht einmal die Hälfte zulassen können. Für kleine Hütten mit 30 Schlafplätzen oder weniger rentiert es kaum. Manche überlegen sich deswegen, die Gäste um einen Solidaritätsbeitrag zu bitten.
Am ersten Wochenende hatten laut dem Schweizer Alpen Club SAC erst 6 Hütten geöffnet. An Auffahrt waren es 11 (die aktuelle Liste finden sie hier). Die Nachfrage ist da. Die Täschhütte war ausgebucht, etliche schliefen im Camper im Tal, ein Paar trug ein Zelt hoch.
Das spüren auch die Touren-Anbieter. Stephan Zürcher von «Weitwandern» sagt:
«Besonders jene, die in den Städten eingesperrt waren, wollen jetzt raus und Vitamin D tanken.»
Weitwandern hatte wegen der Planungsunsicherheit das Angebot verkleinert, nun sind die ersten Touren ausgebucht. Dies, weil eine Gruppe nicht grösser als fünf Personen sein darf – vorerst.
Am nächsten Tag bekommen wir den Marschtee einzeln in Krügen. Der SAC schlägt den Hüttenwarten vor, den Tee in PET-Flaschen abzufüllen, da man vermeiden will, dass die Hüttencrew alle Flaschen anfasst oder die Gäste den Teekanister. Die Hüttenwartin aber weiss, was mit PET-Flaschen passiert, die mit heissem Tee gefüllt werden. Ausserdem hat sie nicht so viele.
Doch wie soll das tags darauf, voll belegt mit 43 Gästen, gehen? Renata stellt kurzerhand Desinfektionsmittel neben den Teekanister: Jeder desinfiziert sich die Hände, bevor er ihn anfasst. Das klappt – einer, der es nicht tut, wird von anderen Gästen gemahnt.
«Jene, die kommen, wollen wirklich und halten sich deshalb an die Regeln.»
, bilanziert die Hüttenwartin nach dem ersten Wochenende. Aber ein grosser Mehraufwand sei das Ganze. Der Tellerservice oder das häufige Desinfizieren der Oberflächen kostet viel Zeit.
Wird den Hütten zu viel aufgebürdet? «Wir mussten uns ans Schutzkonzept der Gastronomie und an die behördlichen Vorgaben halten», sagt der SAC-Hüttenverantwortliche Bruno Lüthi. Das führt zur absurden Vorschrift, dass an einem Tisch nur vier Personen sitzen dürfen, aber die Gruppen fünf Berggänger umfassen können.
«Ich weiss nicht, wie die einzelnen Hüttenteams das handhaben»
, sagt Lüthi offen. «Ich kann mir aber vorstellen, dass, wenn die Gäste einverstanden sind, auch fünf Personen pro Tisch möglich sind. Der Interpretationsspielraum ist recht gross. Es ist ein Herantasten, wir haben nicht die Patentlösung für alles.» Aber die Hüttenwarte seien von Grund auf flexible Leute, das helfe.
Der SAC wird das Einhalten der Regeln nicht kontrollieren, dafür zuständig wäre das kantonale Arbeitsamt oder die Polizei. Lüthi sagt:
«Die grössten Kontrolleure werden jedoch die Gäste selber sein.»
Der unangenehmste Punkt ist das Nachtlager: Den eigenen Kissenbezug mitzubringen, ist Vorschrift. Und doch liegt man da, wo vorher ein anderer war. Gemäss einer viel zitierten Studie im «The New England Journal of Medicine» geht man davon aus, dass das Coronavirus auf aufsaugenden Oberflächen wie Karton nicht mehr als 24 Stunden überlebt. In einer Studie 2005 über Sars, ebenfalls ein Coronavirus, konnten die Viren auf Papier oder Baumwollstoff je nach Konzentration nur fünf Minuten bis maximal 24 Stunden nachgewiesen werden.
Durch die reduzierte Anzahl Plätze ist eine frühe Reservation in diesem Sommer wichtig – und eine rechtzeitige Absage, falls die Tour nicht gemacht wird. Wer sich unwohl fühlt, bleibt zuhause. Ins Gepäck gehören Schutzmasken sowie Desinfektionsmittel. Vorschrift ist ein eigener Hüttenschlafsack und ein Kissenbezug, der mit Kleidern gestopft wird. Vorerst gilt die Maximalgrösse von 5 Personen pro Gruppe. Innerhalb dieser Gruppe lässt sich eine Ansteckung nicht komplett ausschliessen; am Tisch kann der Zwei-Meter-Abstand nicht eingehalten werden. (kus)
Und die Zimmerluft? Jürg Haltmeier von Berg+Tal findet, dass die Fenster nachts geöffnet sein sollten. Ausserdem weist er die Bergführer an, dass sich die Gruppen verhalten wie beim Trekking in Nepal: «Wegen der Gefahr von Durchfall waschen sich dort alle die Hände beim Ankommen in einer Hütte. Das muss nun hier ebenfalls gemacht werden.»
Wir binden die Ski wieder auf den Rucksack. Auf 2800 Metern stossen wir auf die letzten Reste des Winters. In zwei Tagen aus dem Mittelland auf den 4206 Meter hohen Alphubel ist bezüglich Akklimatisation ungünstig. Dazu beginnt es fein zu schneien. Doch die Luft ist frisch, die Umgebung einsam, wir denken nicht ans Umkehren.
Zumal das Wetter besser wird: Im Gipfelhang, als wir die Ski so langsam hochschieben, wie es der Puls zulässt, brennt die Sonne. Die Berge rundherum sind unverspurt. Bergführer Dominik Nellen blickt aufs Skigebiet von Saas-Fee und sagt: «Ohne Pisten. So habe ich es noch nie gesehen.»
Wir fahren los, bevor der Hang zu warm wird, und halten wegen der Lawinengefahr Distanz zueinander. Nun ist zu Lawinen, Gletscherspalten, Sturz und Steinschlag das Virus hinzugekommen. Berggänger kalkulieren das Risiko ständig. Oft hilft Abstand halten.