Reisereportage
Ja nicht stillstehen: Ausruhen in Indien geht nicht

1,3 Milliarden Menschen leben in Indien. Wer hier vorankommen will, muss sich durch die Massen kämpfen. Ausruhen geht nicht, Innehalten ist ein Luxus. Geduld aber, das braucht man in dem riesigen Land. Eine Reise durch den Subkontinent in vier Gefährten.

Samuel Schumacher
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Gute Bremsen, eine gute Klingel und viel Glück braucht man im indischen Strassenverkehr (im Bild die Gassen von Alt-Delhi). Doch manchmal reicht das nicht: Jährlich sterben auf Indiens Strassen knapp 150000 Menschen.

Gute Bremsen, eine gute Klingel und viel Glück braucht man im indischen Strassenverkehr (im Bild die Gassen von Alt-Delhi). Doch manchmal reicht das nicht: Jährlich sterben auf Indiens Strassen knapp 150000 Menschen.

Hans-Peter Breiter

Glattrasiert muss er sein, gut qualifiziert, gross und unbedingt aus der hohen Khatri-Kaste: Die Annonce auf der Heirats-Seite der «Hindustan Times» ist unmissverständlich. Die Familie der Inserentin hat klare Vorstellungen vom zukünftigen Gatten der Tochter, genau wie die Familien all der anderen heiratswilligen Inderinnen und Inder, die sich auf der Suche nach Mr. und Ms. Perfect an die indische Zeitung wenden.

Die Zeitung liegt auf der Sitzbank von Mohans altem Tuktuk. Mohan ist nicht glattrasiert, gross ist er auch nicht. Eine Frau hat er trotzdem gefunden. Und um seine Familie durchzubringen, kämpft er sich mit seinem ratternden Dreiräder täglich durch das Gewühl in den Strassen der Drei-Millionen-Metropole Jaipur, der Hauptstadt des alten indischen Maharadscha-Teilstaats Rajasthan. «Wind Palace» ruft Mohan nach hinten und zeigt auf die von Dutzenden Erkern überzogene Fassade des Palastes, vor dessen Toren sich der Verkehr seinem endgültigen Kollaps entgegenwälzt. Die Luft ist dick, die Metallstangen von Mohans Gefährt schlagen bei jedem Strassenloch hart gegen die Kniescheiben, von überallher drängen die Verkehrskonkurrenten in die wenigen Lücken auf Jaipurs überlasteten Pisten.

Kein Platz mehr im Bus? Kein Problem. Auf dem Dach sind die Luft und die Aussicht sowieso besser.

Kein Platz mehr im Bus? Kein Problem. Auf dem Dach sind die Luft und die Aussicht sowieso besser.

Hans-Peter Breiter

Irgendwie geht es vorwärts, doch die Bewegungsfreiheit ist stark eingeschränkt. Nicht nur auf den Strassen Jaipurs, sondern auch in der Gesellschaft hier im nordindischen Hinterland. Das zeigen die Hochzeits-Annoncen in der «Hindustan Times». Sie sind strikt nach Kastenzugehörigkeit der Inserierenden geordnet. Da soll ja keine Unordnung hineinkommen, da sollen ja keine Grenzen übertreten werden. Das antike Kastensystem teilt die indische Gesellschaft bis heute in mehr oder weniger privilegierte Gruppen auf. Seit 1955 ist es in Indien zwar verboten, aufgrund seiner Kastenzugehörigkeit diskriminiert zu werden. Die Realität aber sieht anders aus. Gerade dieser Tage wird vor einem indischen Gericht der Fall eines Mannes verhandelt, der es gewagt hat, eine Frau aus einer anderen Kaste zu heiraten und der daraufhin von Verwandten seiner Ehefrau mit Macheten ermordet wurde.

Mohan hat noch nie von dem Fall gehört. Und überhaupt will er jetzt nicht über Kasten sprechen. Sein Fokus liegt auf der Strasse. Als Teil der grünen Tuktuk-Flut rauscht er Richtung Zentrum. Und dann steht da plötzlich ein Zebu im Weg. Stoisch blickt das Rindvieh in die Blechlawine, macht keinen Wank. Wer nie im Leben sündigt, glauben die Inder, der wird als Zebu wiedergeboren. Hier in Rajasthan trinkt man nicht nur die Milch der heiligen Kühe, sondern auch ihren destillierten Urin. Und wenn eines der Tiere im Abendverkehr auf der Strasse steht, dann wartet man eben. Zu spät kommen, das gibt es hier sowieso nicht. Pünktlichkeit ist Nebensache, und das ausgerechnet in jener Stadt, die seit 1734 die weltgrösste Sonnenuhr beheimatet.

Wenn man meint, man habe alles gesehen, trampelt einem in Delhi plötzlich ein Elefant vor die Linse.

Wenn man meint, man habe alles gesehen, trampelt einem in Delhi plötzlich ein Elefant vor die Linse.

HO

Rosenwasser und Spuck-Verbot

Szenenwechsel: In Alt-Delhi schimmert die Morgensonne silbern durch den Smog. Jeswin Joseph sticht mit seinem orangefarbenen T-Shirt aus dem grauen Morgen. Er instruiert die Truppe für die Velo-Rundfahrt: «Auf Delhis Strassen braucht ihr drei Dinge: eine gute Klingel, gute Bremsen und viel Glück», sagt er und schwingt sich aufs Rad. Los geht die Fahrt durch die verschlungenen Gassen, vorbei an farbigen Hausfassaden und verstaubtem Kabelgewirr, das vom Versuch zeugt, ein bisschen Moderne in die alten Stuben zu holen. Orientalische Schwere liegt in der Luft, dazu mischt sich der Duft von frittierten Teigtaschen und Rosenwasser.

Jeswin blickt sich immer wieder um, um sicherzugehen, dass alle noch fest im Sattel sitzen. Vor dem alten Gewürzmarkt hält er an. «Das ist der Lieblingsarbeitsort unserer Stadtpolizisten», sagt Jeswin. «Hier können sie den unwissenden Händlern im Minutentakt Bussen verteilen.» Jeswin stellt sein Fahrrad an den Strassenrand und führt die Gruppe über zahlreiche Treppen aufs Dach eines alten Hauses. Der Blick geht hinunter in einen «Haveli», einen riesigen Innenhof, in dem sich halbnackte Menschen in Zubern waschen, Brote backen und sich langsam auf einen weiteren harten Arbeitstag einstimmen.

Ein Foto gibts nur, wenn Du mitrauchst, sagte der Wanderpriester im Zug von Delhi nach Sawai Madhopur zu unserem Reporter. Für ein gutes Bild macht man vieles.

Ein Foto gibts nur, wenn Du mitrauchst, sagte der Wanderpriester im Zug von Delhi nach Sawai Madhopur zu unserem Reporter. Für ein gutes Bild macht man vieles.

Hans-Peter Breiter

Kurzes Durchatmen, dann setzen wir uns wieder auf die «Delhi by Cycle»-Fahrräder und ergeben uns unserem Schicksal. Neun Millionen Fahrräder gebe es in Peking, sang einst die Musikerin Katie Melua. In Delhi sind es gefühlt mindestens ebenso viele. Und alle scheinen sich an diesem Morgen durch das Chaos der Altstadt zu kämpfen. Bald glaubt man, alles gesehen zu haben: Menschen, die in allen unmöglichen Positionen auf dem Boden schlafen, Gebäude, die mit ihren filigranen Verzierungen gegen die Grossstadtöde rebellieren, Händler, die neben Äpfeln und Brot auch Hühnerfüsse und Singvögel feilbieten. Und als wir endlich einen Ausweg aus dem Wahnsinn finden und uns an einem der Strassenstände mit frischem Masala-Tee stärken, trampelt plötzlich ein Elefant an uns vorbei. Die Show ist perfekt, die Überraschung so gross wie der gigantische Dickhäuter, der – kein Witz – vorne an der Kreuzung hält, als die Ampel auf Rot wechselt. Ein kleines bisschen Ordnung im quirligen Chaos.

20 Meter unter uns ist von all dem nichts zu spüren. Seit 2002 verkehren hier im nordindischen Untergrund die topmodernen Waggons der Delhi Metro. Klimatisiert, piekfein geputzt, mit separatem Frauen-Waggon und striktem Spuck-Verbot. Nichts ist zu hören vom Grossstadtlärm, nichts zu riechen vom Gestank der 20-Millionen-Metropole. Die Metro ist eine andere Welt: Eine Welt, die sich nur noch wenige leisten können. Letztes Jahr wurde ein neues Preissystem eingeführt. Eine U-Bahn-Fahrt quer durch die Stadt ist jetzt viermal teurer als eine Bus-Fahrkarte. Die Idee, die Massen aus dem überirdischen Gewusel in die entspannte Unterwelt zu holen, hat nicht funktioniert. Stattdessen hat die Metro die Gräben zwischen denen, die ums Überleben kämpfen, und denen, die sichs gut gehen lassen, nur noch weiter aufgerissen. Sie begegnen sich nun nicht mal mehr im Strassenverkehr.

Das Geheimnis des Bleichen

Auch im Überlandzug von Delhi nach Sawai Madhopur sind die Verhältnisse klar geregelt. Vorne sind die klimatisierten Wagen mit den gepolsterten Ledersitzen, hinten die unklimatisierten Wagen, durch deren Gitterfenster warme Luft hineinströmt und in denen die Menschen auf den Bänkli ganz nah zusammenrücken. Die meisten Passagiere reisen nach Mumbai, 1400 Kilometer, 24 Stunden. In den Gängen stolzieren Aufpasser umher. Kontrolleure blättern in ihren dicken Papierstapeln und kontrollieren, dass ja keiner im falschen Wagen sitzt. Verkäufer huschen mit Trinkwasser, Kokos-Schnitzen und Büchern umher. Vor einer der Toiletten steht ein Mann in Uniform und tut beschäftigt. «Seit einer Stunde hockt der da drin», erzählt der Uniformierte und schüttelt den Kopf. Zehn Minuten später erklärt derselbe Mann vor derselben Tür mit demselben viel beschäftigten Kopfschütteln, dass da einer seit vollen zwei Stunden drinsitze und nicht rauskomme.

Die Zeit spielt irgendwann keine Rolle mehr in diesem rollenden Tross. Der Fahrtwind in den Gängen der Gitterklasse zerfetzt die Realität in lauter bunte Geschichten. Irgendwie müssen alle hier die Stunden überbrücken. Viele schlafen, eine Schulklasse will vom Reporter wissen, wie er es schaffe, so bleich zu sein. Ein bärtiger Mann mit rotem Turban erzählt lachend, er sei auf dem Weg zur Beerdigung seiner Schwiegermutter. Und irgendwo weit hinten sitzt ein Wanderpriester mit orangefarbenem Umhang auf dem Boden, raucht Gras und zeigt seine gestählten Arme. Er sei von der internationalen Mafia, die Welt sei verrückt, der Zug hier komme nie an, und ein Foto machen dürfe nur, wer mitrauche. Wieso eigentlich nicht. Vielleicht vergeht die Zeit ja dann ein bisschen schneller.

Der Autor war auf Einladung des Reiseveranstalters Travelhouse in Indien.

Tipps für Nordindien-Reise Beste Reisezeit Für Nordindien-Reisen zwischen September und März. Anreise Swiss fliegt täglich ab Zürich direkt nach Delhi. Unterkünfte Das Hotel «Samode Palace» ist in einem alten Maharadscha-Palast untergebracht. Das «Treehouse Anuraga» bietet luxuriöse Zimmer. Erlebnisse Auf www.delhibycycle.com kann man mehrstündige Velostadtrundfahrten durch die Hauptstadt buchen. / Der Natur-Guide Nadeem Abbas (nadeemabbasrtr@gmail.com) weiss alles über die Tiger im Ranthamboree-Nationalpark. Rundreisen durch Rajasthan Organisiert der Reiseveranstalter Travelhouse.

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