Die Konfliktforscherin Cordula Reimann sieht die Einführung der Zertifikatspflicht als heiklen Moment. Es brauche für so einen Entscheid zuerst basisdemokratische Prozesse, damit sich die Kritiker gehört und verstanden fühlten.
Je länger die Pandemie dauert, desto mehr spaltet sich die Bevölkerung. Bilder von Demonstrationen gegen die Coronamassnahmen sind allgegenwärtig. Doch nicht nur im politischen Leben ist die Gesellschaft gespalten, auch im Privaten werden Freundschaften beendet und Familien entzweit. Cordula Reimann ist Friedens- und Konfliktforscherin in Langenthal und arbeitet für verschiedene Partner international als Beraterin. Wir wollten von ihr wissen, was besser laufen könnte.
Können Sie erklären, wie es in Schweiz zu einer solchen Spaltung kommen konnte?
Cordula Reimann: Bis vor Corona gingen wir alle von sozialen Grundgemeinsamkeiten aus wie Solidarität und Freiheit. In der Schweiz sind wir auf den Konsens bedacht, kommunizieren eher vorsichtig und indirekt. Mit dieser Spaltung habe ich in der Schweiz deshalb nicht gerechnet. Vielleicht hatten wir diese Gemeinsamkeiten gar nicht wirklich. Es scheint sich viel persönlicher und politischer Frust über Jahre angeschaut zu haben. Der sucht sich ein Ventil. Vor Corona haben Menschen in der Beiz Dampf ablassen können. Dazu kam, dass diese Zeit viele Tabus berührt, wie zum Beispiel Tod, Krankheit, Angst oder Einsamkeit. Das ist eine anspruchsvolle Ausgangslage. Die Gesellschaft ist überfordert.
Das Gemeinsame wurde im ersten Lockdown noch betont. Wieso verschwand das so schnell?
Zum einen gingen wir wohl davon aus, dass die Krise rascher vorbei ist. Zum anderen wurde bald klar, dass zwar alle von Corona betroffen sind, aber sehr unterschiedlich.
Die Krise hat verschiedene Typen hervorgebracht: Massnahmen-Kritiker oder -Befürworter, Impf-Gegner und so weiter.
Das sind alles sehr heterogene Gruppierungen. Die gab es schon vor Corona, wie auch die schweigende Mehrheit. Doch vor Corona waren sie nicht so gut organisiert, jetzt sind sie sichtbarer. Corona wurde zu einer Art Katalysator für viele.
Wie finden diese heterogenen Gruppen zusammen?
Obwohl sie von ganz unterschiedlichen sozialen Milieus oder beruflichem Hintergrund kommen, scheint die gemeinsame Ablehnung der Massnahmen sehr identitätsstiftend zu sein.
Fehlte vorher eine Identität?
Das ist schwer zu sagen. Es fällt aber auf, wenn ich gewisse Kanäle in den sozialen Medien beobachte, dass sich Gruppen einseitig informieren. Die Menschen fühlen sich in diesen Gruppen gesehen, ihre Ängste und Bedürfnisse erscheinen als wichtig und richtig. Einzelne Gruppen bekommen etwas Sektenhaftes.
Die Menschen fühlen sich also übergangen?
Sie fragen sich, wo die Vielfalt der Meinungen gespiegelt wird. Diese Kritik ist zum Teil auch berechtigt. Zum Beispiel was die Behörden betrifft.
Was hätten die Behörden besser machen können?
Ich denke, man muss fair bleiben. Wir stecken in einer aussergewöhnlichen Krise. Auch die Behörden sind da überfordert. Im Vergleich mit unseren Nachbarländern hat es die Schweiz nicht schlechter gemacht.
Noch mal: Was hätte man besser machen können?
Die Coronakrise, wie auch übrigens der Klimawandel, meistern wir nur als Gesamtgesellschaft. Die Behörden hätten eine Mehrwegkommunikation nutzen sollen. Gemeinden, Kommunen, Verbände, Schulen, Medien: Alle sollen an dieser Kommunikation teilnehmen. Sie müssen ihre Bedürfnisse mitteilen können.
Wie könnte das konkret aussehen?
Menschen wollen gehört werden. Dazu braucht es Gefässe wie runde Tische, Erzählcafés, Tandems oder Bürgerforen, bei denen man Menschen in die politischen Prozesse einbinden kann. Das hätte man schon letzten Sommer einführen können.
Wir haben Initiativen und Referenden. Sind wir nicht schon sehr eingebunden?
Ja, gerade für eine Basisdemokratie wie die Schweiz ist die jetzige Situation eine Chance, denn je mehr top-down entschieden wird, desto mehr Widerstand regt sich. Das wird nun deutlich in den Reaktionen auf den Beschluss des Bundesrates, die Zertifikatspflicht auszuweiten. Wir haben jetzt die Gelegenheit, Instrumente für noch mehr Partizipation und Inklusion zu entwickeln. Das wäre auch für künftige Krisen wichtig.
Wie meinen Sie das?
Krisen werden immer komplexer und widersprüchlicher. Die Klimakrise können wir auch nur als Gesamtgesellschaft meistern. Hier müssen wir Politik neu leben. Jacqueline Fehr versucht das etwa in Zürich, indem sie digitale Treffen mit Bürgerinnen und Bürgern hat und andere neue Arten der Teilhabe ausprobiert.
Gibt es Hoffnung, dass wir die Polarisierung der Gesellschaft überwinden?
Es braucht Deeskalation. Für die politische Ebene haben wir viele Expertinnen und Experten, die für die Schweiz auf der ganzen Welt in Krisengebieten Dialogprojekte unterstützen.
Gibt es dazu funktionierende Beispiele?
Im Kontext der Pandemie weiss ich von keinem Land, welches auf partizipative Prozesse setzt. Aber solche Vorgehen sind erprobt, zum Beispiel bei Städteentwicklungsprojekten, in denen sehr früh möglichst alle Akteure eingebunden werden.
Im Herbst stimmen wir zum zweiten Mal über das Covid-19-Gesetz ab, der Geheimdienst befürchtet Anschläge auf Impfzentren. Ist es schon zu spät?
Ich denke, es gibt durchaus die Möglichkeit, dass es weiter verbal eskaliert und auch, dass es zu Gewalt kommt. Wir sehen einen gefährlichen Mix aus Frustration, Schuld, Druck, Verzweiflung, Trauer und Hoffnungslosigkeit.
Wann sehen Sie eine Eskalation als wahrscheinlich?
Jetzt, da die Zertifikatspflicht ausgeweitet wird. Auch die Impfkampagne für die Jüngeren ist ein heikles Thema. Und wenn die Behörden es nicht schaffen, mit einer Mehr-Ebenen-Kommunikation die Situation zu deeskalieren.
Und auf der persönlichen Ebene?
Wenn man sich Covidiot oder Impfnazi an den Kopf wirft, ist das verbale Gewalt. Hier müssen beide Seiten zur Deeskalation beitragen. Um einen echten Dialog führen zu können, ist es unabdingbar, dass man die Bedürfnisse des anderen als legitim anerkennt.
Und was mach ich, wenn mein Gegenüber mich auf die Palme bringt?
Erst mal sollte man allen mit Respekt und Neugier begegnen. Ich höre mir an, was das Gegenüber zu sagen hat, und versuche zu verstehen, wie es zu dieser Schlussfolgerung kommt – im Idealfall ohne zu werten. Wenn mich etwas emotional triggert, dann versuche ich, mir zu überlegen, wieso es mich so triggert. Es hilft, wenn ich die Sach- von der Beziehungsebene trenne: Hart streiten, ohne die Freundschaft in Frage zu stellen. Im Englischen gibt es den Ausdruck «Let’s agree to disagree» – einigen wir uns darauf, dass wir uns nicht einig sind.
Frau Reimann verfehlt das Thema. Die Gegner der Massnahmen sind deshalb dagegen, weil diese völlig unverhältnismässig in die Freiheitsrechte anderer eingreifen und einen enormen wirtschaftlichen Schaden (100 Milliarden soweit). Einem Teil der Befürworter wiederum gehen die Massnahmen teilweise nicht weit genug. Normalerweise wurde in der Schweiz der Kompromiss gesucht. Doch im Falle der Corona Massnahmen wurde in keinster Weise der Kompromiss gesucht, sondern im Gegenteil die Kritiker diffamiert und teilweise auch politisch verfolgt. Man spürt, dass da was ganz faules gespielt wird, das merkt man an den vielen Widersprüchen, der einseitigen Berichterstattung, eben der Repression, dem lächerlich Machen von sehr ernsten und fachlich fundierten Einwänden und eben der krassen Unverhältnismässigkeit.
Der Grundlegende Denkfehler, den Frau Reimann macht, ist anzunehmen, dass die aktuell sehr laute Minderheit auch nur ein Minimum an Bereitschaft zur Perspektivenübernahme der Gegenseite zu zeigen bereit wäre. Die sog. Impfskeptiker/Kritiker spielen mit dem Bundesrat derzeit das, was man gemeinhin als Taubenschach bezeichnet. In so einem Fall kommt man mit Verständnis und Einbindung nirgends hin, da dies ein Minimum an Konsensbereitschaft voraussetzen würde.