Tessin: Ins wilde Tal der Aussteiger

Das schöne Wetter wird auch im Süden zurückkehren – Zeit für ein genüssliches Wochenende im Centovalli- und Onsernonetal.

Lioba Schneemann
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Typisch: Steindächer sind ein Merkmal der traditionellen Architektur im Gebiet Sopraceneri. (Themenbild: Samuel Golay/Keystone (Comologno, 10. Juni 2016))

Typisch: Steindächer sind ein Merkmal der traditionellen Architektur im Gebiet Sopraceneri. (Themenbild: Samuel Golay/Keystone (Comologno, 10. Juni 2016))

Schon die Fahrt ins Centovalli bedeutet: eintauchen in wohltuende Langsamkeit. Die Bahn hat alle Zeit der Welt, das färbt ab! So tuckern wir im sanften Morgenlicht hinein ins wildromantische Tal. Kaum 30 Minuten nach unserer Ankunft in Locarno erreichen wir Verdasio, fahren gemächlich weiter, nun aber steil in höhere Gefilde mit der kleinen gelben Seilbahn. Sehr still ist es heute an diesem Freitagmorgen, fast wähnt man sich im Nirgendwo. Doch als wir uns dem Berggasthaus Alla Capanna nähern, hören wir Stimmengewirr der Gäste, die an den langen Steintischen sitzen. «Herzlich willkommen in unserem Paradies», ruft uns Barbara Fot zu. «Ist es nicht herrlich hier auf dem Monte Comino?» Die Gastgeberin lacht über das ganze Gesicht. Kein Wunder – der Ausblick ist ja auch einmalig schön, das Berggasthaus mit der grossen Terrasse prächtig. Von hier aus schweift der Blick auf die grünen Talflanken, gegenüber dem Tal erblickt man die schrofferen Berge des Pizzo Leone, Pizzo Ometto und Gridone. Dahinter liegt ganz unten am See das schmucke Brissago und damit eine ganz andere Welt als hier.

Barbara Fot und Peter Heidelberger, die neuen Besitzer der «Capanna» auf dem Monte Comino, strahlen, trotz der vielen Stunden, die sie als neues Wirtepaar seit Juni Tag für Tag arbeiten. «Als wir dieses Berggasthaus erstmals sahen, war sofort klar: Das ist es!», sagt Heidelberger. Allerdings haben er und seine Partnerin die Arbeit unterschätzt. «Wir haben fast täglich 16-Stunden-Tage. Es macht es uns sehr Freude, hier zu sein. Die Lage, die Natur und die Ruhe machen die Anstrengung wieder wett», sagt der Gastgeber. Die Arbeit ist beiden nicht anzumerken, geschweige denn den feinen Kreationen. Seit Beginn der Sommersaison schwingt Heidelberger den Kochlöffel und organisiert alles rund um Küche und Haus, während Barbara Fot Kuchen, Gebäck und Desserts zaubert und für Gäste und Lieferanten zuständig ist. Das Paar aus Wil brachte frischen Wind auf den Comino. Glücklicherweise blieben wir zwei Nächte, so dass wir in Genuss von herrlichen Gnocchi in Salbeibutter mit selbstgemachten Lugani­ghe und goldgelber, glatter Polenta auf dem Holzbrett kamen. «Alles ist selbst gemacht, aber mehr wird nicht verraten» lacht der Chef, einstiger Finanzberater und Hobbykoch. Bis Ascona ging die Kunde bereits, dass man hier gut isst.

Trittsicherheit gefragt auf den grossen Granitstufen

Von der Hütte aus startet man zu diversen Wanderungen. Die einfachste Tour ist ein eineinhalbstündiger Rundweg, erst über einen Birkenhain, in dem einige Lamas weiden, zur Kapelle Madonna della Segna, einige Schritte weiter steht man vor einem Hochmoor mit rötlich gefärbten Gräsern. Weiter ginge es hinunter nach Mosogno im Onsernonetal, aber wir kehren um und nehmen die schöne, einfachere Runde unter die Füsse, um später wieder auf der Terrasse die Sicht zu geniessen. Eine anspruchsvollere Tour führt zum nur 2004 Meter hohen Pizzo Ruscada. «Nur» ist relativ, denn ohne Trittsicherheit wandert es sich schlecht auf den Tessiner Wanderwegen. Und bei Nässe ist besondere Vorsicht geboten, denn oft muss man über grosse Granitstufen runter- und raufsteigen. Wie diese schweren Granite derart kunstvoll hierhin bugsiert wurden, fragt man sich schon! Sollte man keine Lust haben, bis zum Gipfel aufzusteigen, kann man ab Pescialunga nach Lionza ins Centovalli wieder hinabsteigen.

Am Sonntag lassen dicke Regenwolken nichts Gutes erahnen. Schliesslich kapitulieren wir, lassen die Wanderung nach Intragna aus, nehmen Seilbahn, Bahn und den Postbus, der uns nach Auressio ins Onsernonetal bringt. In Intra­gna grüsst der hohe Kirchturm, mit 65 Metern der höchste des Kantons, den man auch besteigen kann. Das Ethnographische Museum wäre auch einen Besuch wert, uns zieht es jedoch sogleich ins wilde Tal. Hier erwartet uns ein zweiter gastlicher Ort, die Villa Edera.

Ehemaliges Ziel der «neuen Landmenschen»

An bester Lage thront die hellrosa getünchte Villa über dem dschungelartigen Tal, ein kleiner, öffentlich zugänglicher Park bietet beste Entspannung. Innen wird man von maisgelben Wänden, knallroten Ledersesseln neben einem hellgrünen Piano überrascht, als i-Tüpfelchen hängen über der Sitzgruppe Lampen, die mit Strohhüten garniert sind. Die Hüte werden von einem lokalen Verein im Tal nach alter Tradition gefertigt. Mike Keller, der die Modernisierung vorantrieb, sagt: «Im Onsernonetal gab es keine Übernachtungsmöglichkeiten für junge Leute mit knappen Budget. Wir schliessen nun diese Lücke und bringen eine neue Zielgruppe ins Tal.»

Schade findet er, dass viele Leute seiner Generation das wilde Tal gar nicht kennen. Dies war einmal anders, war doch in den 70er-Jahren das einsame Onsernonetal, das an massiver Abwanderung litt, Ziel der «Neo-Rurali» (neue Landmenschen), Aussteiger aller Couleur und Kulturschaffenden. Auch die Eltern des 36-jährigen Mike Keller gehörten dazu. Nach vielen Reisen kehrte er in sein Heimattal zurück und setzt hier für den Tourismus im Tal dringend nötige alternative Ideen um. Inzwischen managt er drei «Wild Valley»-Unterkünfte, alle sind dem Verein Swiss Hostels zugehörig. Seine Bemühungen brachten ihm im Jahr 2017 die Nomination für den Schweizer Tourismuspreis «Milestone» ein. Auch die 33-jährige selbstständige Umweltingenieurin Laila, die in der Villa Edera sowie im benachbarten Info-Point Teilzeitjobs fand, kam vor zwei Jahren ins Tal zurück. Heute lebt sie in Loco und arbeitet vor allem bei ihrem Vater auf dem Bioweingut. «Ich wohne in einer WG, und das habe ich nicht erwartet, dass es das in Loco gibt», freut sich Laila. «Es ist schön, zu sehen, wie sich hier etwas ändert, wie alte Traditionen aufleben und Neues organisiert wird.»