Startseite
Leben
Der Nerd ist längst gesellschaftsfähig geworden. Auf der Spur eines Phänomens.
Salopp gesagt ist er ein Streber, ein Sonderling oder Fachidiot. Wenig schmeichelnde Bezeichnungen für den Nerd, einen Typus Mensch, der fähig ist, sich voll und ganz in eine sehr spezifische Materie hineinzudenken, ja sie zu beherrschen. Beth Harmon ist so eine Figur. Die Protagonistin der im Jahr 2020 produzierten Netflix-Serie «The Queen’s Gambit» verkörpert ein Wunderkind des Schachs im Amerika der 1960er-Jahre.
Das klingt zuerst einmal mässig spannend, galt doch Schach lange Zeit als angestaubtes Spiel. Doch die Zuschauerzahlen der Miniserie – 80 Millionen Menschen haben sie bis dato gestreamt, das ist Rekord – beweisen, dass das Nerd-Sein nicht abstossend, sondern spannend sein kann. Die Serie hat sogar einen Hype ums Schachspielen ausgelöst. Ihr Erfolg erstaunt allerdings nicht: Heute ist der Nerd, der «sozial isolierte Aussenseiter», salonfähig wie nie.
Zu den ersten Nerds überhaupt gehört der Mathematiker, Physiker und Ingenieur Archimedes. Seine Aufmerksamkeit richtete das 300 v. Chr. geborene Genie lieber auf die Zahlen als die Körperhygiene, was bei seinen Mitmenschen gar nicht gut ankam. Sein Nerd-Sein soll ihm schliesslich zum Verhängnis geworden sein: Als er einem Soldaten sagte «Störe meine Kreise nicht!», soll der ihn erschlagen haben.
Wenn man Archimedes als den Urururgrossvater der Nerds bezeichnen würde, so wäre Einstein wohl der Grossvater und Microsoft-Mitgründer Bill Gates deren Vater. Auch Apple-Gründer Steve Jobs war einer vom nerdigen Schlag, doch Gates’ Äusseres sowie seine lange Zeit extrem schüchterne Art – im Gegensatz zu Jobs mochte er öffentliche Auftritte überhaupt nicht – geben genau das Bild des asozialen schrulligen Tüftlers ab.
Bei all den grossen Namen wird klar: Es sind oftmals Nerds, die die Welt verändern. Und damit eine grosse Macht besitzen, obschon sie in vielen Fällen unscheinbar wirken. Auch den kurzzeitig reichsten Mann der Welt, Tesla-Gründer Elon Musk, kann man als Nerd bezeichnen.
Der exzentrische 49-Jährige baut nicht nur Batterieautos, er sinniert über neue Tunnelsysteme – und nebenbei will er ganz hoch hinaus: mit seiner Firma SpaceX auf den Mars. Und mit dem Unternehmen Neuralink will er menschliche Gehirne und Maschinen vernetzen.
Doch all die schillernden Figuren verändern nicht nur die Welt. Deren Erfolge haben auch dafür gesorgt, dass Nerds, picklige Kellerkinder, immer weniger eine Randerscheinung sind. Einen Beweis dafür liefert die Mode: In den vergangenen Jahren trugen hipsterige Teenager etwa einen Pullover mit dem Original-Print der Nasa, und die einst verpönten Hornbrillen und Sehbrillen im Aviator-Stil, wie sie Bill Gates trug, sind zum begehrten Accessoire geworden – smart zu sein, ist mächtig cool.
Dem war allerdings lange nicht so. Das Image des schrullig-unbeholfenen, pickligen Kellerkindes wurde vor allem im Fernsehen am Leben gehalten. Von der 1990er-Jahre-Serie «Alle unter einem Dach» mit Steve Urkel bis zur 2019 eingestellten Serie «The Big Bang Theory»: Alle Akteure wurden überzeichnet, in unpassende Klamotten gesteckt und mit Hornbrille versehen. Lange fand das die breite Masse lustig. Aber im neuen Jahrzehnt sehen Nerds im TV auch mal aus wie die geniale Schachspielerin Beth Harmon, «The Queen’s Gambit».
Ein weiterer Grund, warum der ehemals verschupfte Streber längst im Mainstream angekommen ist: die sozialen Medien. Anstatt sich vor der Aussenwelt zu verschanzen, gewähren Nerds via Youtube Einblick in ihr Kämmerchen, wo sie gerade wieder etwas Geniales vollbringen – um vor einer Kamera zu sprechen, bedarf es ja keinerlei Sozialkompetenz. Ob sie sich im Programmieren verlieren, beim Destillieren amüsieren oder beim Analysieren ihre Themenwelt zelebrieren: Die Youtube-Kanäle machen die Welt der Protagonisten zugänglicher, ja nachvollziehbarer für Normalos.
Da ist zum Beispiel Brent Underwood. Der Amerikaner lebt nicht in einem Haus oder einer Wohnung, sondern allein in einer stillgelegten Silberminenstadt, die er gekauft hat. Sein Youtube-Kanal «Ghost Town Living» zählt bald eine Million Follower. Mit seinem ganzen Ersparten haucht Brentwood der Geisterstadt peu à peu durch Renovieren neues Leben ein. Da ist Mark Rober, ein ehemaliger Nasa-Ingenieur und Erfinder, der seinen 17,5 Millionen Followern kreativ-verrückte Freizeitideen präsentiert, wie etwa ein Eichhörnchen-Geschicklichkeits-Parcours, den er in seinem Garten für die Tiere baut. Das sorgt für Klicks: Rober kommt auf beeindruckende 1,87 Milliarden Kanal-Aufrufe.
Auch sehr unterhaltsam: Der Kanal «Veritasium», wo sich Derek Muller Fragen stellt – zum Beispiel ob man in einem echofreien Raum verrückt wird – oder uns stolz das rundeste Objekt des Universums präsentiert. Er macht das mit einer solchen Hingabe und transportiert alles so schmackhaft, dass die Gefahr besteht, dass auch Nicht-Nerds plötzlich an solchen Themen interessiert sind. Hinzu kommt, dass viele dieser Sendungen so professionell produziert sind, dass sie sich keineswegs hinter der Qualität des linearen Fernsehens verstecken müssen.
Das Internet sorgt also in diesem Fall nicht nur für mehr Akzeptanz und auch Bewunderung für den einst belächelten Sonderling, sondern auch dafür, dass man sich bequem alle Youtube-Nerds der Welt in seine Kammer holen und dabei etwas lernen kann. Wissen ist attraktiv wie lange nicht mehr. Und das ist gut so.