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Leben
Heinrich Rothmund, Chef der Eidgenössischen Fremdenpolizei, liess im Sommer 1942 die Grenze schliessen und verlangte von den Grenzwächtern etwas, das er selber nicht vermochte – Menschen in eine lebensbedrohliche Situation zurückzuschicken.
Anfang August 1942 steht Heinrich Rothmund in Boncourt an der Grenze zu Frankreich. Vor ihm eine Gruppe belgischer und polnischer Juden – Männer, Frauen und Kinder «Eine recht wenig erfreuliche Gesellschaft», wie der Chef der Eidgenössischen Polizeiabteilung seinem Vorgesetzten, Bundesrat Eduard von Steiger, schreibt. Rothmund schildert, wie Grenzwächter, Zöllner und Soldaten gespannt beobachten, wie er sich entscheiden wird.
Er «bringt es nicht über sich», die Gruppe wegzuweisen, «da zwei herzige Kinder dabei waren» und da «er doch glauben musste, die Leute wären in Lebensgefahr». Tage später erlässt er, gestützt auf einen Beschluss des Bundesrats, die Weisung zur Schliessung der Grenze für Flüchtlinge, die zu diesem Zeitpunkt vor allem jüdische waren.
Die Historikerin Ruth Fivaz-Silbermann hat Rothmund, den wichtigsten Verantwortlichen an der Schnittstelle von Ausgestaltung und Umsetzung der Flüchtlingspolitik, vor den Medien wiederholt in Schutz genommen. Er habe doch geholfen, soweit es ihm möglich war, lässt die Tochter einer Familie, die in der Schweiz Zuflucht gefunden hatte, verlauten.
Aber wie konnte Rothmund im Sommer 1942 die Grenze schliessen und von den Grenzwächtern etwas verlangen, das er selber nicht vermochte – Menschen in eine lebensbedrohliche Situation zurückzuschicken? Was Fivaz in ihrer Dissertation zu den jüdischen Flüchtlingen aus Frankreich unterschätzt, ist die vom Soziologen Zygmunt Bauman so bezeichnete «Dialektik der Ordnung».
Ein erstes Beispiel, um dieses Ordnungsdenken zu illustrieren, sind «Arierausweise». Nach dem Erlass der Nürnberger Rassengesetze verlangen deutsche Behörden immer öfter den Nachweis «einer arischen Abstammung» für Schweizer in Deutschland oder Deutsche in der Schweiz.
Der Kanton Genf nimmt dazu eine klare Haltung ein: «L’arianisme est une notion anti-scientifique. Elle est étrangère à la législation suisse. Une distinction de race n’est en aucune façon en accord avec le droit public de la Suisse.» (Das Arierwesen ist ein unwissenschaftlicher Begriff. Er passt nicht in die schweizerische Gesetzgebung. Die Unterteilung der Bevölkerung in Rassen ist auf keinen Fall kompatibel mit der schweizerischen Rechtsauffassung.) Das Bundesgericht sollte diese Haltung später klar bestätigen.
Ganz anders Heinrich Rothmund: In einem Kreisschreiben an die kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren hält er 1936 fest: «Das Problem der arischen oder nichtarischen Abstammung, wie überhaupt die ganze Rassenfrage, hat in der Schweiz keine gesetzliche Regelung gefunden.» Er überlässt es den Kantonen, ob sie den deutschen Behörden entgegenkommen und Auszüge aus Kirchenbüchern, die eine katholische oder protestantische Herkunft belegen, zur Verfügung stellen. Immerhin empfiehlt er, diese jeweils via die Betroffenen zu schicken.
Ein zweites Beispiel für diese ambivalente, der Bürokratie geschuldete Haltung ist die Registrierung der Flüchtlinge. Die Karteikarten, welche die Polizeiabteilung verwendete, enthalten neben der Rubrik «Konfession» die Rubrik «Rasse». Eine interne Weisung vermerkt, dass Letztere «nach Heimatrecht eingetragen wird – Arier, Nichtarier, Neger». Der Eintrag kann zwar als Angabe eines Fluchtgrundes gedeutet werden, ist aber gleichzeitig durch das Denken in rassischen Kategorien überlagert.
Und ein drittes Beispiel ist schliesslich der bekannte «J-Stempel», mit dem Rothmund in Absprache mit Botschafter Hans Frölicher in Berlin und Bundesrat von Steiger in Bern «ein schwieriges Problem zu lösen» sucht: Wie können die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen mit Deutschland aufrechterhalten und gleichzeitig «die jüdischen Emigranten von der Schweiz ferngehalten» werden? Die «Lösung» ist wiederum eine bürokratische und verstösst gegen den Ordre Public in der Schweiz: die Stempelung der Pässe deutscher und österreichischer Juden entlang der Kategorien der Nürnberger Rassengesetze.
Der Aufbau der Fremdenpolizei ist Heinrich Rothmunds Lebenswerk. Er ist stolz darauf, dass es ihm gelungen ist, «Überfremdung» und «Verjudung der Schweiz» zu verhindern. Diesen «Erfolg» will er sich von den Deutschen «nicht kaputtmachen» lassen, wie er immer wieder betont. Damit ist klar, dass die Definition der Flüchtlingseigenschaft der Juden auf Kriterien des seit dem Ersten Weltkrieg eingeübten Überfremdungsdiskurses beruht.
Die Polizeiabteilung hält daran fest, obschon sie um die Entrechtung, Verfolgung und später die Ermordung der Juden weiss. Erst Ende 1943 weist Rothmund die Tessiner Grenzwacht definitiv an, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen, wenn sie sich denn nicht wegweisen lassen; er hat zuvor die eingangs erwähnte Grenzsperre aufgehoben und im September 1942 durch eine Weisung ersetzt, wonach Kinder, Familien mit kleinen Kindern, Alte und Kranke aufgenommen werden sollen.
Es besteht also kein Grund, am Bekenntnis von Bundesrat Kaspar Villiger zu rütteln, der Juden und Jüdinnen für das Leid, welches behördliche Massnahmen über sie brachte, am 7. Mai 1995, 50 Jahre nach Kriegsende, um Entschuldigung bat.
Wie ist nun aber Ruth Fivaz’ überraschende Einschätzung der Haltung von Heinrich Rothmund zu interpretieren? Sie beleuchtet in ihrer Arbeit, die sie letzten März in Genf vorgestellt hat, vor allem Einzelschicksale und die Organisation von Fluchtlinien, die Hilfe von Privaten und Organisationen. Sie betont also das, was der Philosoph Emmanuel Lévinas als das «Denken an den andern» bezeichnet hat. Was Fivaz vernachlässigt, ist, wie erwähnt, die «Dialektik der Ordnung». Flüchtlingspolitik findet in diesem Spannungsfeld statt. Es ist das Spannungsfeld zwischen dem institutionalisierten Überfremdungsdiskurs und der Vorstellung der humanitären Tradition.
Diese Situation umreisst die Flüchtlingspolitik in der Zeit des Nationalsozialismus, des Holocaust und des Zweiten Weltkrieges. Verdichtet auf ihren existenziellen Kern, heisst das, es geht im Sinne Lévinas’ um die Verantwortung «im Angesicht des andern». Die Politik teilt diese Grundsituation, wie Baumann gezeigt hat, in einzelne Stufen der Entscheidung und Verantwortung auf.
Die erste Stufe bildet der politische Grundkonsens, der in einem Widerstreit unterschiedlicher Interessen eine Erwartung an den Bundesrat formuliert. Dieser nimmt den Grundkonsens auf, und die Polizeiabteilung setzt ihn in Weisungen um. Die Grenzorgane führen die Weisungen durch. Diese moderne Arbeitsteilung geht einher mit der Teilung der Verantwortung.
Jeder Rollen- und Entscheidungsträger ist allein für den ihm zugeordneten Teil der Konsensbildung, der Weisungen und des Vollzugs verantwortlich. Deshalb war es Heinrich Rothmund möglich, in seinem Berner Büro, weit abseits der Grenze, von den Grenzwächtern zu verlangen, was er selber im Angesicht der Flüchtlinge nicht vermocht hatte. Und Bundesrat von Steiger lehnte es nach dem Krieg ab, dafür die Verantwortung zu übernehmen.
Der Autor Guido Koller ist Historiker und spezialisiert auf Zeitgeschichte.