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Leben
In einem offenen Brief protestieren Tamedia-Journalistinnen dagegen an, dass sie weniger Lohn, Chancen und Wertschätzung bekommen.
Diese Pandemie, sie sei ein Rückschlag für die Gleichstellung, heisst es. Eine Krise kann aber auch eine Chance sein, weil die Zeichen auf Turbowandel stehen, weil Unbehagen sich aufstaut – vor allem bei den Frauen. An diesem Wochenende war es bei 78 Journalistinnen der Tamedia-Redaktionen (zu denen der «Tages-Anzeiger» gehört) so weit. Sie schickten am Freitag an die Geschäftsleitung sowie die Tamedia-Redaktionen einen Brief, der dann via Twitter an die Öffentlichkeit gelangte. Sie klagen eine «sexistische Arbeitskultur» an und belegen diese mit über 60 Zitaten. Darunter Sätze wie: «Bei dir im Hintergrund schreit ein Kind, habe ich das mit dir gezeugt?»
Dabei geht es auf den ersten Blick nicht um krasse Fälle von Missbrauch oder Sexismus, sondern um eine Unternehmenskultur, die Frauen gering schätzt. Diese würden «ausgebremst, zurechtgewiesen oder eingeschüchtert», heisst es. «Sie werden in Sitzungen abgeklemmt, ihre Vorschläge werden nicht ernst genommen oder lächerlich gemacht.»
Uiuiui! @Tamedia - we ve got a Frauenproblem! Das Schreiben hat es in sich. Offener Brief von 78 extrem mutigen Redaktorinnen an GL gegen alltäglichen Sexismus. Bewundernswert! https://t.co/cIao8dWKKa
— hansi voigt (@hansi_voigt) March 6, 2021
Zudem würden Frauen weniger gefördert und schlechter entlöhnt. Die Probleme seien strukturell. Den Grund sehen die unterzeichnenden Frauen unter anderem darin, dass Männer in den Tamedia-Redaktionen klar in der Überzahl seien und fast alle Schlüsselpositionen besetzten. «Für leitende Funktionen wurden kaum Frauen berücksichtigt.» Es herrsche eine von Männern geprägte Betriebskultur.
Interessant in diesem Kontext: Fast zeitgleich erschien im Branchenmagazin «Schweizer Journalist:in» ein Ranking der Medienunternehmen zum weiblichen Anteil in der Führungsriege. Der Tages-Anzeiger rangiert dabei auf Platz 1 der grossen Medienhäuser, die erweiterte Redaktion «Tamedia D» hingegen auf Rang 9 mit 20 Prozent Frauen in Führungsjobs. Und keiner einzigen Frau in der Chefredaktion.
Seit Dezember befasst sich eine interne Arbeitsgruppe unter der Leitung von Priska Amstutz, Co-Chefredaktorin des Tages-Anzeigers mit dem Thema Diversity mit Fokus Frauenförderung. Dem Betriebsklima scheint das alles bisher wenig zuträglich zu sein. Generell sei die Kommunikation in den Redaktionen teilweise sexistisch und abwertend, klagen die unterzeichnenden Frauen an.
Gemäss dem Branchenportal «Persoenlich.com» kam diese Aktion für die Chefredaktion nicht ganz unerwartet. Einen Tag vor der Veröffentlichung am Samstag verschickten die beiden Co-Geschäftsführer Marco Boselli und Andreas Schaffner ein Mail, in dem sie verbindliche Ziele zur Frauenförderung versprechen. «Wir sind uns bewusst, dass die bisherigen Massnahmen zur Steigerung des Frauenanteils in den Redaktionen und insbesondere in Führungspositionen nicht ausreichen und es Zeit für eine verbindliche Strategie ist», liess sich auch Tamedia-Chefredaktor Arthur Rutishauser zitieren.
Interessant in diesem Kontext auch: Vor zwei Jahren brachte das Recherchedesk von Tamedia eine grosse Geschichte zum Thema sexuelle Belästigung im Journalismus unter dem Hashtag «Me (dia) too». Die Resultate waren erschreckend. Und schon damals fiel auf, dass 40 Prozent der betroffenen Frauen ihre Vorgesetzten als Urheber der Belästigungen angaben. Damit liegt der Anteil Journalistinnen, die Belästigungen durch Vorgesetzte erleben, wesentlich höher als in vergleichbaren nationalen Studien. Es war also nur eine Frage der Zeit, dass aus der Recherche eine Anklageschrift wurde. Krisen sind dafür nicht die schlechteste Zeit.