Gläubiger und Spötter

Nachruf Maurice Chappaz ist am Donnerstag 92jährig im Spital von Martigny gestorben. Eigentlich zum Juristen bestimmt, wurde Chappaz als Chronist, Kritiker und Poet seiner Walliser Heimat zu einem der grossen Autoren unseres Landes. Charles Linsmayer

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Maurice Chappaz an seinem Schreibtisch in Le Châble (2005). (Bild: ky/Gaëtan Bally)

Maurice Chappaz an seinem Schreibtisch in Le Châble (2005). (Bild: ky/Gaëtan Bally)

In «Office des morts» von 1966 heisst es: «Der Tod steigt in mein Herz / wie eine Schwalbe / Der Tod ist wie Kinderatem im Winter / Ich sag zu ihm: Du schenkst mir Freude.» Nicht nur in diesem Lyrikzyklus, auch in vielen anderen Werken hat Maurice Chappaz sich mit dem Tod auseinandergesetzt. Am schönsten, leichtesten wohl in dem von sanftem Humor erhellten Band «A rire et à mourir» von 1983, wo er dem Wort «sterben» /«mourir» das Wort «rire» / «lachen» entlockt hat.

Und was wünschte er sich selbst für nachher, nach dem Tod? In einem Interview in jenem alten Haus seiner Kindheit in Le Châble, das er seit 1979 wieder bewohnte, sagte er 2005: «Jeder wünscht sich, dass das, was er gemacht hat, lebt. Aber leben heisst in diesem Fall: dass andere Menschen es anerkennen und in eine andere Sache verwandeln, die schön ist. Aber eigentlich sollte man sich die Frage gar nicht stellen. Wenn die Dinge einen Wert haben, leben sie von selbst!»

Frau, Erde, Nacht

Der am 21. Dezember 1916 geborene Sohn eines Advokaten und Neffe des Walliser Staatsrats Maurice Troillet immatrikulierte sich 1937 der Familientradition gemäss in Lausanne für ein Jus-Studium. Aber schon als Klosterschüler in St-Maurice hatte er Gedichte geschrieben, 1931/32, als Deutsch-Student im finster gefängnisartigen Kollegium Schwyz, hatte er sich nur mit Schreiben vor dem drohenden Selbstmord retten können, und 1939 gewann er mit der Erzählung «Un homme qui vivait couché sur un banc» einen Novellen-Wettbewerb.

Erst während des Krieges aber, 1941 auf einem Bauernhof im waadtländischen Jorat, setzte sein Talent sich endgültig durch und beschloss er, in seinem Leben drei «Körper» zu besingen: «die Frau, die Erde, die Nacht». Die Erde und die Nacht hat er als ruheloser Nomade, Wanderer, Berggänger, Skifahrer in Publikationen wie «Verdures de la nuit» (1945), «Testament du Haut-Rhône» (1953) oder «Tendres campages» (1966) immer wieder neu und immer wieder anders, tiefer, wortkarger, bildkräftiger beschrieben, ohne je der Heimattümelei zu verfallen.

Der Frau und der Liebe aber hat Chappaz erstmals 1944 in «Les grandes journées de printemps» wirklich gerecht zu werden vermocht, in jener poetisch-hymnischen Prosa, die die Begegnung mit «Fifon», seiner späteren Frau S. Corinna Bille, spiegelt.

Maurice und Corinna

«Maurice Chappaz. Sofort spürte ich seine Zärtlichkeit und seine Unschuld», erinnerte sich Corinna Bille später an jenen Moment von 1942 im Château de Glérolles, als die 29jährige dem vier Jahre Jüngeren erstmals gegenübertrat. Und: «ich habe nie jemanden sich mit solcher Präzision ausdrücken hören. Keinerlei Zögern. Wie gehämmert.» Während Chappaz seinerseits festhielt: «Ich hatte Charme in jenem Moment. Ich verehrte sie. Sie war königlich. Ich hatte Phantasie, aber sie, sie besass etwas Phantastisches. Beide wollten wir das Absolute. Ich hatte Geschmack an der Wüste, sie den richtigen Sinn für Blumen und zahme Tiere. Im Frühling waren wir ein Paar.» Corinna Bille war die grosse weibliche Offenbarung seines Lebens, sie wurde nicht nur die Mutter seiner Kinder, sie liess ihn auch an ihren dichterischen Visionen teilhaben. Die Beziehung durchlebte aber auch ihre Krisen. Als Corinna sich durch die Hausfrauenrolle in ihrer schriftstellerischen Arbeit behindert fühlte, und als Chappaz durch die Heirat «die Inspiration verloren» zu haben meinte.

Und sie erstarkte wieder in den gemeinsam durchgestandenen Diffamierungen, als Chappaz 1976 in «Die Zuhälter des ewigen Schnees» die industrielle Zubetonierung des Wallis beklagt und vom rechtskonservativen «Nouvelliste» als «Krebsgeschwür des Wallis» beschimpft worden war, zu dem Corinna Bille mit ihrer «littérature des cochons tristes» nur allzu gut passe.

Wie sehr ihr Verlust ihn getroffen hat, als sie 1979 starb, ist aus der Schilderung ihres Todes in «Octobre ‘79» und aus der Gestalt gewordenen Trauerarbeit der mehr als 20 Bücher zu erahnen, die er nach ihrem Tod aus dem Nachlass herausgab. Als handle es sich um mit Herzblut geschriebene eigene Werke. Eine schöpferische Symbiose dieser Art war nicht wiederholbar, und auf der Schiffsreise, die ihn 1992, ein Jahr nach ihrer Heirat, in die kanadische Heimat seiner zweiten Frau, Michène Pestelli-Caussignac, führte, notierte er sich ins Tagebuch: «J'ai besoin d'aide, femme, barque, mais pas de confident.» Was Michène nicht daran hinderte, ihm bis zu seinem Tode fürsorglich und treu ergeben zu sein.

Welt und Provinz

Was wird bleiben von diesem Dichter, der gleichzeitig ein Gelehrter und ein Bergler, ein Walliser par excellence und ein Weltreisender aus nomadischem Bedürfnis, ein Gläubiger und ein Spötter, ein Traditionalist und ein Aussteiger, ein leidenschaftlich Liebender und ein Zyniker war? Und der, was immer er auch schrieb, mit seiner unverwechselbar eigenen, Patois und Hochsprache ungerührt miteinander vermischenden, eleganten, leichten und doch elementar-bildkräftigen Sprache stets von neuem bewies, dass grosse französische Literatur keineswegs nur in der Pariser Luft, sondern auch noch in den abgelegensten Tälern des Wallis entstehen kann?

Das «Portrait des Valaisans» von 1965, diese humorvoll-sarkastische Annäherung an seinen Heimatkanton, wird sicher dazu gehören. Aber auch der bissige «Match Valais-Judée» von 1968, der den Kardinal Schiner und die Pfaffen und Advokaten des Wallis gegen die biblischen Könige und Propheten kämpfen lässt, der grandiose, auf eigenen Erfahrungen als Mineur beruhende «Chant de la Grande-Dixence» von 1965 und vor allem auch das Spätwerk, das sich immer wieder auf berührende Weise mit dem Tod befasst: «La veillée des Vikings» von 1990, wo das Sterben von Maurice Troillet und von Edmond Bille zum bewegenden Paradigma wird, «La mort s'est posée comme un oiseau» von 1993, wo der beste, lebenslange Freund verabschiedet wird, aber auch «L'Evangile selon Judas», wo er in ungewöhnlicher Lesart Judas zum Doppelagenten des Evangeliums gemacht hat, honoriert vom Teufel, unterstützt von der Vorsehung.

Das letzte Werk

Das letzte, was er 2008 publizierte, ist ein Bändchen, das in der Übersetzung von Rolf und Hilde Fieguth den Titel «Die Pfeife raucht und betet» tragen wird und wo er sich voller Humor, voll demütiger Ergebung und im Gestus des alttestamentlichen Propheten mit dem Tod befasst. «Wir sind vorsintflutlich», heisst es da. «Wir freuen uns einer Waldhimbeere wegen an unserem Dasein, vor der Sintflut, die gewiss kommen wird. Ich werde diese Welt bald verlassen, aber auch was ich vor mir sehe, wird diese Welt verlassen.»

Charles Linsmayer hat jüngst in der Reihe Reprinted by Huber ein Lesebuch über S. Corinna Bille herausgegeben: «Das Vergnügen, eine eigene neue Welt in der Hand zu halten» (Huber, Frauenfeld)