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In der Schweiz stirbt selten ein Kind. Wenn, dann meist im Spital auf der Intensivstation. Kinder sollten vermehrt zu Hause sterben dürfen, fordern die Verfasser einer Studie. So wie Sarina.
Am Tag, als Sarina starb, hätte sie ihren Lieblings-Lehrer im Tessin besuchen wollen. Aber morgens konnte ihre Mutter sie kaum wecken. Die Mutter rief im Spital an und wollte fragen, was sie machen solle. «Ich dachte nicht, dass mein Kind jetzt stirbt», sagt Natascha Weibel heute, «am Tag davor war sie ja noch auf den Beinen. Nein, es war kein Thema, dass sie stirbt. Ich wollte es halt schnell im Spital zeigen gehen. Wir waren ja so oft im Spital.»
Fünfzehn Jahre alt war Sarina. Zwei Jahre lang hatte sie mit dem Krebs gelebt. Seit vier Monaten hatten alle gewusst, dass sie die Krankheit nicht überleben wird. Die Ärzte im Spital informierten die Kinder-Spitex Nordwestschweiz. Die Pflegefachfrauen, die Sarina während der Krankheit begleitet hatten, kamen ins Haus in Solothurn und merkten, dass Sarinas Leben zu Ende geht. Sie blieben ruhig. Selbst als Sarina seltsam zu atmen begann. Sie hatte sich auf dem Schoss ihrer Mutter zusammengerollt. In der Nacht zuvor hatte sie ihre Mutter noch aus dem Zimmer geschickt. Eine «Gluggere» hat der Teenager die Mutter oft geschimpft. Aber in den letzten Stunden war alle Nähe wieder möglich. Auf dem Schoss ihrer Mutter schlief sie für immer ein.
Natascha Weibel erinnert sich: «Als Erstes dachte ich: Es ist meine Schuld, dass sie gestorben ist. Ich hätte Sarina doch wecken sollen, ich hätte sie am Einschlafen hindern sollen!» Aber die Spitex-Frau nickte nur. Die Mutter verstand: Es ist gut so.
Natascha Weibels Hund mit den lustigen, hellblauen Augen vermag die Traurigkeit nicht recht aus der Wohnung zu verscheuchen an diesem Nachmittag, als die Mutter ihre Geschichte erzählt. Dabei geht es eigentlich um etwas Tröstliches: Dass Sarina zu Hause sterben konnte.
Sie starb damals erst, als der ältere Bruder auch da war. Sie starb friedlich, mit hoch dosierten Schmerzmedikamenten zwar, aber ohne die befürchteten Krampfanfälle. An die Minuten danach kann sich Natascha Weibel nicht erinnern. Als sie wieder zu sich kam, sah sie, wie schön die Spitex Sarina gebettet hatte, mit ihren Stofftieren und allem, was ihr wichtig war. «Die Spitex dachte für mich», sagt Natascha Weibel. Sie riefen auch den Arzt und den Bestatter.
«Die palliative Betreuung von Kindern in der Schweiz steht im Anfangsstadium», das sagen die Autorinnen einer Studie um die Betreuung todkranker Kinder in der Schweiz. Die Studie heisst «Pelican»: Paediatric End-ofLife Care Needs in Switzerland. Es wurden 149 Familien befragt, die zwischen 2011 und 2012 ein Kind verloren haben.
Von den Kindern, die in der Schweiz vor ihrem 18. Geburtstag sterben, sterben 40 Prozent in den ersten 4 Lebenswochen, weil sie zu früh oder mit schweren Fehlbildungen zur Welt kommen. Bei Kindern ab 2 Jahren machen Unfälle beinahe die Hälfte aller Todesfälle aus.
Von den Neugeborenen sterben nur 3 Prozent zu Hause, 11 Prozent sind es bei Kindern mit Herzerkrankungen. Am häufigsten sterben Kinder mit Krebs zu Hause: 38 Prozent. Am zweithäufigsten Kinder mit neurologischen Erkrankungen: 20 Prozent.
Pro Jahr sterben in der Schweiz 400 bis 500 Kinder im Alter zwischen 0 und 18 Jahren. Das sind sehr wenige bei schweizweit jährlich 68 000 Todesfällen. Es ist so wenig, dass es in der Politik kaum ein Bewusstsein gibt, dass auch Kinder sterben. Das zeigt sich auch in den Spitälern: Die Ärzte sind mit ihrer Spitzenmedizin aufs Lebenerhalten fokussiert. Vier von fünf Kindern sterben im Spital, die meisten auf der Intensivstation. Das hat eine aktuelle Studie ergeben, welche die Betreuung von Kindern am Lebensende untersucht hat. Fast bei jedem fünften Kind erfolgt in den letzten 24 Stunden vor dem Tod ein Wiederbelebungsversuch. Dabei bräuchten todkranke Kinder ganz andere Hilfe.
«Intensivstationen können auch am Lebensende eines Kindes, insbesondere bei Neugeborenen oder kritisch kranken Kindern mit Herzfehlern, der geeignetste Ort des Sterbens sein», heisst es in der Zusammenfassung der Studie. Wenn jedoch mit dem Sterben eines Kindes über Monate oder manchmal gar Jahre gerechnet werden müsse, «sollten Fachpersonen alles daransetzen, diesen Kindern ein Sterben zu Hause zu ermöglichen».
Das Lebensende von Kindern ist heute erst in drei Spitälern der Schweiz gezielt ein Thema: in den Kinderspitälern in Zürich, St. Gallen und Lausanne. Dort gibt es spezialisierte Teams für unheilbar kranke Kinder, sogenannte Pädiatrische Palliative Care, die mit den Eltern die letzten Wochen und Stunden besprechen. Das soll sich ändern: Wie für Erwachsene am Lebensende, sollen auch für Kinder in der Schweiz flächendeckende Standards gelten und Hilfe vorhanden sein. Das fordert die Studienleiterin Eva Bergsträsser und hofft, mit den Ergebnissen die Politik aufzurütteln. Auch bei den Kinderspitex-Organisationen gibt es grosse Unterschiede in der Palliative Care.
Natascha Weibel hatte Glück, dass sie im Einzugsgebiet der Kinderspitex Nordwestschweiz wohnt und dadurch an Sarinas letztem Tag jemand neben ihr sass, der schon andere Kinder hat sterben sehen und stumm nickte: Es ist gut.
Regula Buder, Leiterin der Palliative Care bei der Kinderspitex Nordwestschweiz, sagt, im Spital würden Eltern todkranker Kinder oft hören: «Wenn etwas ist, kommen Sie auf den Notfall.» Auch Natascha Weibel wollte zuerst Rat beim Spital einholen. Wie auch nicht, wenn es dem Kind schlecht geht? Wie kann man da nichts tun und einfach auf den Tod warten? «Man muss solche Situationen vorher mit den Eltern durchsprechen, ganz detailliert», sagt Buder. «Wann können sie welches Schmerzmedikament geben? Wie kann man den Raum schön gestalten? Es stimmt nicht, dass man nichts tun kann. Aber die Eltern müssen vorbereitet sein, damit sie sich sicher fühlen.» Buder kämpft wie die Studienautoren dafür, dass die palliativen Strukturen in der Schweiz auch für Kinder flächendeckend ausgebaut werden. Auch wenn nur selten Kinder sterben und man am liebsten gar nie daran denkt.
Pflegeexpertin Katri Eskola hat sich in der Studie von Eva Bergsträsser speziell mit dem Thema «sterben zu Hause» befasst. Sie sagt: «Eltern, die ihr Kind zu Hause gepflegt haben, sind danach sehr, sehr müde. Das geht an die Substanz. Aber man weiss auch, dass Eltern später weniger Depressionen haben, wenn sie den Moment des Todes bewusst gestalten und das Kind gehen lassen konnten. Wenn es nicht einfach so passierte.» Sie verkraften den Verlust besser.
Dabei geht es nicht nur um den letzten Tag. Als der Krebs bei Sarina nach zwei Jahren zurückkehrte – gerade dann, als alle glaubten, die Krankheit sei endlich besiegt –, konnten die Ärzte am Inselspital in Bern nichts mehr tun. Und sagten das auch. Sarina reiste mit ihren Freunden nach Paris. Danach flog sie mit ihrer Familie nach New York, obwohl sie bereits im Rollstuhl sass und in Amerika ein Spital aufsuchen musste. Auch am Fasnachtsumzug in Biel wollte Sarina mitfahren. Dabei habe sie die meiste Zeit geschlafen, sagt Natascha Weibel.
«Die letzten beiden Jahre mit Sarina waren Glück», sagt sie. «Sie hatte nichts mehr zu verlieren und machte alles, was sie wollte. Sie ging sogar Gleitschirm fliegen, obwohl die Ärzte es verboten hatten.» Im Juni 2014 wurde Sarina konfirmiert. Alle wussten: Es ist der letzte Höhepunkt. Sechs Wochen später war die Beerdigung.
«Jeder gute Moment zählt», sagt Studienautorin Bergsträsser. «Das haben die Familien verdient und dafür arbeite ich.» Und es gehe darum, dass den Familien in dieser Zeit durch die richtige Unterstützung nichts unnötig Trauriges oder Schweres aufgebürdet werde. Sie hofft, dass mit einem flächendeckenden Palliative-Care-Netzwerk den Familien todkranker Kinder einiges erspart werden kann. Stress zum Beispiel, Unsicherheit, vielleicht nur ein hilfloser Kommentar eines Arztes. Davon erzählten die befragten Eltern in der Studie. Vielleicht ist mehr Unterstützung für jene Eltern möglich, die ihr todkrankes Kind ganz alleine pflegen. Vielleicht ein Tod, der so gestaltet werden konnte, dass die Erinnerung im Nachhinein tröstlich ist.
Zweieinhalb Jahre sind vergangen. In Natascha Weibels Wohnung erinnert noch viel an Sarina: Fotos, Karten, ein Souvenir aus Amerika. Auch die Urne mochte die Mutter noch nicht auf den Friedhof bringen. «Der Tag kommt, wo ich das mache», sagt sie zuversichtlich. Langsam beginnt sie wieder zu leben. Dieses Jahr geht sie wieder an die Fasnacht.