WHO-Studie
Fleisch auf dem Teller: Vom Statussymbol zum Gesundheitsrisiko

Früher galt Fleisch als das «Supernahrungsmittel» schlechthin. Heute gehört der Verzicht darauf propagiert.

Annika Bangerter
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Früher unvorstellbar: Die WHO stuft verarbeitete Fleischerzeugnisse als krebserregend ein.

Früher unvorstellbar: Die WHO stuft verarbeitete Fleischerzeugnisse als krebserregend ein.

KEYSTONE

Peter Speck wusste bereits als kleiner Bub, was er später werden will: Metzger. So wie sein Vater und sein Grossvater. Heute führt er in dritter Generation mit seiner Zwillingsschwester Christine den Familienbetrieb, die Metzgerei Speck in der Aarauer Altstadt. Der Laden ist noch derselbe, die Auslage hat sich stark verändert. «Zu Zeiten meines Grossvaters war das Sortiment einfacher und kleiner. Wer hat beispielsweise im Sommer grilliert? Das kannte man in der Schweiz kaum und wenn, dann legte man ein Steak auf den Grill», sagt Speck.

Nicht nur bei den privaten Konsumenten, auch bei den Gastro-Betrieben beobachtet Speck Veränderungen. Er erinnert sich gut, wie sein Grossvater den Restaurants grosse Fleischstücke inklusive Beine und Knochen ausgeliefert hat: «Heute sind klein geschnittene und teilweise verarbeitete Fleischwaren gefragt. Grossmutters Küche beherrschen nicht mehr alle, hier springen wir ein und bereiten beispielsweise einen Braten vor.» Der Metzger, der Aufgaben der Köche übernimmt und eine Produktepalette, die alle Wünsche bedient – mit den Gemüse-Spiessen sogar jene der Vegetarier: Der Fleischkonsum in der Schweiz hat sich innert drei Generationen gewandelt.

Der Glaube an die Proteine

Das zeigt auch ein Blick in die Statistik von Proviande, der Branchenorganisation der Schweizer Fleischwirtschaft. Haben die Schweizer 1949 jährlich um die 28 Kilogramm Fleisch pro Person gegessen, sind es heute 52 Kilogramm. Der Höhepunkt des Fleischkonsums war Ende der 1980er-Jahre. Damals assen Herr und Frau Schweizer im Durchschnitt 60 Kilogramm Fleisch pro Jahr. Lebensmittelskandale, aber auch veränderte Essgewohnheiten liessen die Zahlen sinken und förderten den Trend weg vom Schweinefleisch hin zum Geflügel und Lamm.

Propagieren verschiedene Bewegungen heute eine fleischarme oder fleischlose Ernährung, war dies vor 200 Jahren undenkbar. Regelmässiger Fleischkonsum zeigte den Wohlstand. Was heute Autos oder Juwelen bedeuten, waren früher Würste und Braten: Statussymbole. Der Glaube an ihre Wirkung war ungebrochen. Wie der Historiker Jakob Tanner im Buch «Essen und Trinken zwischen Ernährung, Kult und Kultur» (vdf Hochschulverlag) schreibt, galt Fleisch bis Anfang
des 20. Jahrhunderts in den Industriestaaten als das «Supernahrungsmittel». Ernährungswissenschafter sahen darin «die stärkendste Speise». Erst die Entdeckung der Vitamine im Jahr 1911 schmälerte den Proteinglauben langsam.

Namen verhüllen Herkunft

Der Fleischkonsum hatte auch grosse Auswirkungen auf die Landwirtschaft und Produktionsbetriebe. Waren die Tiere lange Zeit Teil eines Betriebs, spezialisierten sich immer mehr Bauern auf die Viehhaltung. In den Städten entstanden die ersten Schlachthöfe. Die Verarbeitung von Fleisch wurde Teil der Industrialisierung. Das führte auch zu einer veränderten Wahrnehmung bei den Konsumenten – die meisten essen Fleisch, ohne an das Schlachten zu denken. Wie Jakob Tanner schreibt, verdrängen «schöne Namen» wie beispielsweise Wiener Schnitzel und «appetitliche Paniermehlumhüllungen» die eigentliche Herkunft.

Der Historiker sieht diese Versachlichung als krasses Gegenstück zur Vermenschlichung der Haustiere: Cervelats stehen den vierbeinigen Würsten beim Hundecoiffeur gegenüber.

Risiko: Darmkrebs

Die Fleischindustrie ist unlängst ein Milliardengeschäft und Teil des globalen Wirtschaftssystems. So erstaunt es nicht, dass sich zahlreiche Forscher über Fleischfasern unter dem Mikroskop beugen. Diese Woche kamen neue Resultate heraus: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlichte eine Studie, die den Verzehr von verarbeiteten Fleischerzeugnissen als krebserregend einstufen. Wurst und Schinken erhöhen das Risiko, an Darmkrebs zu erkranken. Auch rotes Fleisch sei «wahrscheinlich» krebserregend, sagte die zur WHO gehörende internationale Krebsforschungsagentur (Iarc). «Jede verzehrte Portion verarbeitetes Fleisch von täglich 50 Gramm erhöht das Darmkrebsrisiko um 18 Prozent», schreibt die Iarc in ihrer Studie. Die WHO stuft deshalb nun die verarbeiteten Fleischerzeugnisse in dieselbe Kategorie krebserregende Stoffe ein, in der sich auch Tabakrauch oder Asbest befinden. Die Wissenschafter betonen aber, dass die Risiken nicht gleich zu setzen seien.

Bedeutet das nun eine Veränderung des Schweizer Fleischkonsums? Marcel Portmann von Proviande, der Branchenorganisation der Schweizer Fleischwirtschaft, winkt ab: «Der Zusammenhang von Fleisch und Krebs wird seit Jahren immer wieder diskutiert. Dabei gibt es Hinweise, aber kaum Präzisierungen.» Für ihn ist zentral, dass die Ausgangssituation je nach Land berücksichtigt wird. «In der Schweiz essen nur 15 Prozent der Bevölkerung täglich Fleisch – nicht nur Würste, sondern auch Poulet oder Rindfleisch. Zudem liegt die Schweiz europaweit beim Pro-Kopf-Konsum auf dem zweithintersten Platz. Nur in Lettland wird noch weniger Fleisch gegessen als hier», sagt Portmann. Er verweist auf die USA: «Dort essen die Menschen mit jährlich 100 Kilogramm pro Person fast das Doppelte wie in der Schweiz. Das sind Welten.»

Auskünfte sind gefragt

Auch Metzger Speck ist nicht überrascht von der Studie. Er kannte frühere Untersuchungen. Gewinneinbusse befürchtet er nicht. «Diese Zahlen sind nicht neu. Sie zeigen, dass es einen hohen Fleischverzehr braucht, damit er sich negativ auf die Gesundheit auswirkt. Damit kann ich gut leben», sagt Speck. Und dass er viel mehr Fragen als sein Grossvater vor 60 Jahre beantworten muss, daran hat sich der Aarauer Metzger unlängst gewöhnt. Er sieht darin auch eine Chance: «Wir können über jedes Produkt Auskunft geben, weil wir das Fleisch von den Tieren aus der Region selber verarbeiten.» Zu Zeiten seines Grossvaters war dies selbstverständlich, in der Zeit der Grossverteiler und des internationalen Fleischhandels bei weitem nicht mehr.

Lesen Sie hier das Interview zum Artikel.