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Leben
Der Mensch ist ein Kraftwerk. Gelingt es, seine Energie zu nutzen, werden Ladegeräte überflüssig. Eine medizinische Anwendung könnte schon sehr bald kommen.
Vor neunzig Jahren patentierte Rolex einen Meilenstein: ein Uhrwerk, das sich bei jeder Bewegung des Handgelenks von selbst aufzieht. Damit wurden Uhren zu Wundern der Technik. Scheinbar ohne äusseres Zutun liefen sie unaufhörlich weiter.
Inzwischen zeigen Uhren Nachrichten an, spielen Musik ab, zählen Schritte, analysieren den Schlaf. Ein enormer Fortschritt. Und gleichzeitig ein Rückschritt: Wir müssen wieder täglich ans Aufladen der Uhr denken. Auf jeden mehrtägigen Ausflug muss das Kabel mit, selbst auf Bergtouren müssen wir uns nach Steckdosen umsehen.
Wäre es nicht möglich, auch die Energie für ein elektronisches Gerät in irgendeiner Weise vom menschlichen Körper zu beziehen? Doch. Theoretisch müsste dies klappen. Der Mensch ist ein Kraftwerk, er wandelt Nahrung in Energie um. Den grössten Teil davon strahlt er als Wärme ab, im Schnitt ungefähr 100 Watt. Um eine Smartwatch zu betreiben, müsste nur ein Bruchteil davon in Strom umgewandelt werden.
Dieses Ziel verfolgt ein ETH-Spin-off namens Mithras Technology. Die Köpfe hinter der jungen Firma haben an der ETH Prototypen von sogenannten thermoelektrischen Generatoren entwickelt, welche die Wärme des menschlichen Körpers in elektrischen Strom umwandeln.
Sie nutzen dabei einen Effekt aus, der vor fast zweihundert Jahren vom deutschen Physiker Thomas Seebeck entdeckt wurde: Aus zwei unterschiedlichen Metallen kann ein Stromkreis konstruiert werden, in welchem Strom zu fliessen beginnt, sobald zwischen den beiden Metallen ein Temperaturunterschied besteht.
Nun ist das Mithras-Technology-Team daran, die Prototypen zu marktfähigen Produkten weiterzuentwickeln. Einerseits soll die Technologie in «Wearables» wie Smartwatches und Fitnesstracker integriert werden. Andererseits sollen medizinische Anwendungen wie Hörgeräte, Cochlea-Implantate oder Glukose-Messgeräte von Batterien unabhängig werden. All die Geräte werden direkt auf der Haut getragen, wodurch die eine Seite in der Regel deutlich wärmer ist als die andere.
Mit der ersten Version wird sich noch keine Smartwatch komplett damit versorgen lassen. Aber es wäre eine Unterstützung, um die Laufzeit des Akkus zu verlängern. Vorerst will sich die Firma aber auf Anwendungen aus der Medizintechnik konzentrieren, wo der Strombedarf kleiner ist.
Als Erstes soll ein Biosensor entstehen, der die Körpertemperatur überwacht – ein wichtiges Symptom bei Covid-19. Das System ist in ein Pflaster integriert, das direkt auf den Körper geklebt wird. Firmengründer Franco Membrini:
«Denkbar ist sogar, dass der Sensor ein Alarmsignal auslöst, wenn die Temperatur einen kritischen Wert erreicht.»
Das wäre auch im Sport oder in Berufen wie der Feuerwehr nützlich.
Wenn sich das System bewährt, sollen andere Sensoren folgen, etwa zur Messung des Blutzuckerspiegels bei Menschen mit Diabetes. Sogar Insulinpumpen oder Hörgeräte könnten dereinst auf diese Weise betrieben werden. Den ersten energieautonomen Biosensor will das Start-up noch dieses Jahr lancieren.
Neu sind solche Ideen nicht. Doch die Umsetzung ist schwierig, wie schon diverse Firmen feststellen mussten. So hat das britische Telekommunikationsunternehmen Vodafone vor acht Jahren am Musikfestival auf der Isle of Wight Prototypen eines Schlafsacks und einer Gesässtasche lanciert, mit denen sich Smartphones aufladen lassen sollten. Der Schlafsack nutzte dasselbe Prinzip wie die Patches von Mithras, also letztlich die Wärme, die der Körper abgibt. Die Hose hingegen musste zur Stromerzeugung bewegt werden – etwa durch tanzen. Um beide Produkte wurde es nach der Lancierung vielsagend still.
Zur selben Zeit schürte Nokia die Hoffnung, Geräte mit der Energie aus elektromagnetischen Wellen, wie sie etwa von WLAN-Netzen oder Mobilfunkantennen fast überall vorhanden sind, zu speisen. Auch da blieb es bei der Ankündigung.
Ein Forschungsteam an der Materialforschungsanstalt Empa will dagegen Kleidung nutzen, um Sonnenenergie einzufangen. Im vergangenen Herbst präsentierten sie ein Material, das auf Textilien aufgebracht werden kann und die Fähigkeit hat, diffuses Umgebungslicht einzufangen. Von da zu einem funktionierenden Ladegerät ist es aber ein weiter Weg.
Die Erfolgschancen für Mithras stehen besser. Die geplanten Biosensoren benötigen nur sehr wenig Strom. Zudem profitiert das Team von technologischen Fortschritten, wie Franco Membrini sagt:
«Wir können heute bis zu zehn Mal mehr Drähte, sogenannte Thermocouples, auf derselben Fläche anbringen als noch vor einigen Jahren.»
Gelingt es seinem Team, ein Produkt tatsächlich auf den Markt zu bringen, so ist es punkto Energieautonomie sogar der guten alten Automatik-Uhr überlegen. Denn bei älteren oder kranken Menschen kommt es vor, dass die Uhr stehen bleibt, weil sie sich zu wenig bewegen. Der Biosensor produziert dagegen sogar im Schlaf Strom.