Erziehung zur Zeit der 1968er: Freiheit – bis zur Überforderung

Die 1968er-Bewegung hatte enorme Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Wobei sie auch über das Ziel hinausschoss. Und heute? Machen Eltern neue Fehler.

Arno Renggli
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Kinder um 1968 in einem der neuen «Kinderläden»; Kindergärten, wo sie sich selber organisieren mussten. (Bild: Harald Schumacher/Keystone)

Kinder um 1968 in einem der neuen «Kinderläden»; Kindergärten, wo sie sich selber organisieren mussten. (Bild: Harald Schumacher/Keystone)

Gemäss einer neuen Umfrage würden 70 Prozent aller jungen Menschen ihre Kinder gleich erziehen, wie es ihre Eltern getan haben. Dieses Ergebnis kann man wohl zurück bis zur Elterngeneration um 1968 gelten lassen. Diese Eltern waren selber ­allerdings noch ganz anders aufgezogen worden. Ihre Leistung besteht also auch darin, einen pädagogischen Wandel geschafft zu haben, der bis heute nachwirkt.

Natürlich ist 1968 auch in diesem Kontext ein Oberbegriff für eine Entwicklung, welche schon früher einsetzte und auch nach 1968 noch weiterging. Aber der Geist dahinter ist eben der 1968er: persönliche Befreiung, Rebellion gegen Autoritäten und vor allem auch ganz grundsätzlich gegen die Generation davor.

Kinder wurden als Feinde gesehen

Elmar Anhalt, Professor für Erziehungswissenschaften an der Uni Bern, hat sich intensiv mit der «1968er-Pädagogik» befasst. Diese passe natürlich zum ganzen 1968er-Kontext: «Prägend für all diese Entwicklungen war der Zweite Weltkrieg. Der nachfolgenden Generation war klar, dass so etwas nie mehr passieren durfte. Und sie bezog darauf auch die moralische Legitimation, sich gegen ihre Eltern aufzulehnen.»

Ins gleiche Horn stösst der deutsche Buchautor Claus Koch. Gerade in Deutschland war der Umbruch extrem, weil die Vorgängergeneration auch nach dem Weltkrieg kaum aus alten Mustern herauskam, wie Koch auch in seinem Buch über das Verhältnis der drei Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg (siehe Box) eindrücklich zeigt: «Es herrschte weiterhin eine alte Grundidee, die von den Nazis indoktrinierend noch verstärkt worden war: Kinder sind ungehorsam, undiszipliniert, triebhaft und destruktiv. Und müssen daher geschliffen werden. Kinder wurden daher quasi als Feinde gesehen, eine emotionale Bindung war schwierig, gerade auch für die von Krieg, Niederlage und Schuld traumatisierten Eltern.»

Laut dem Zürcher Kinderarzt Remo Largo, Autor bekannter Erziehungsratgeber wie «Babyjahre» (überarbeitete Fassung 2017) oder «Kinderjahre» (überarbeitete Fassung erscheint im November), setzten pädagogischen Veränderungen in der Schweiz schon in den 1950er-Jahren ein. «Durch die Katastrophe des Weltkriegs hatten die Menschen komplett das Vertrauen in Autoritäten verloren. Zudem sorgte der aufkommende Wohlstand für eine existenzielle Befreiung, die auch die Beziehung zwischen Eltern und Kindern entlastete.»

Eine Selbstbestimmung, die auch überforderte

In den 60er-Jahren kam noch mehr gesellschaftliche Dynamik auf. Remo Largo: «Man wollte mit der Vorgängergeneration endgültig abrechnen und ganz bewusst neue Wege gehen. Die frühere autoritäre Erziehung war eine der Angriffsflächen.» Doch wie sah denn danach die neue Erziehung aus? Elmar Anhalt:

«Das Ideal war eine Familie, wo in einer Atmosphäre von Offenheit und Empathie ausgehandelt wird, wie man zusammenleben möchte.»

Zudem gab es ein grundsätzliches Interesse, mit neuen Lebens- und Erziehungsformen zu experimentieren. Allerdings war man nicht dagegen gefeit, neuen, aber genauso starren Mustern zu verfallen, wie Elmar Anhalt betont: «Ideologische Fixierungen waren teils genauso stark wie früher. Und es waren weiterhin die Männer, die den Ton angaben.»

Vor allem führte das Ideal von selbstbestimmten Kindern dazu, dass man diese teilweise überforderte. «Man hat Kinder mit Aufgaben und Eigenverantwortung bedacht, für die sie entwicklungspsychologisch gar nicht in der Lage sind.» Ein sehr extremes Beispiel ist, dass Kinder zuweilen bereits als Sexualpartner gesehen wurden, wie etwa der Skandal um Jürg Jegge zeigt.

Auch Remo Largo beurteilt die 68er-Erziehung durchaus kritisch: «Die jungen Eltern waren damals vor allem mit sich selber und ihrer Selbstverwirklichung beschäftigt. Die Freiheit, die man den Kindern zugestand, war in Wahrheit nicht selten eine emotionale Vernachlässigung.» Claus Koch ergänzt:

«Den Kindern gar keine Grenzen mehr zu setzen, hat diese überfordert. Kinder brauchen starke Eltern.»

Die 1968er fielen oft ins andere Extrem: Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern wurde fast partnerschaftlich: «Den Jungen fehlten auch gewisse Konfliktfelder, um sich etwa in der Pubertät auch abgrenzen zu könne.»

Bei aller Kritik hat die 1968er-Bewegung viel Positives erachtet. «Vor allem in Bezug auf Offenheit und Selbstbestimmung», sagt Elmar Anhalt. Mit Sicht auf heute dürfe man den Einfluss aber auch nicht überbewerten.

Heute: Freiheit nur, wenn Leistung stimmt

«Es gibt viele andere Faktoren wie Globalisierung, neue Technologien oder die Orientierung auf Ökonomie, die eine grosse Rolle spielen.» Anhalt weist auch auf die starke Ökonomisierung der Gesellschaft hin, die den Menschen als Kapital im harten Wettbewerb sieht: «Man ist bereit, Kindern und Jugendlichen alle möglichen Freiheiten zu geben. Sofern die Leistung stimmt.»

Claus Koch sieht das ähnlich: «Dass man den Jungen heute viel Freiheit zugesteht, ist auch eine Folge von 1968. Aber die gleichzeitige Leistungsorientierung zeigt, dass Eltern oft eigenen Ehrgeiz oder auch Abstiegsängste auf ihre Kinder projizieren.»

Auch Remo Largo relativiert die Freiheit heutiger Kinder und Jugendlicher: «Sie wachsen in einer extremen Leistungsgesellschaft auf. Und es gibt neue Formen von Fremdbestimmung, wenn ich daran denke, was sie ausserschulisch noch alles machen sollen.»

In der neueren Pädagogik wird wieder für mehr elterliche Führung plädiert. Ist das ein Rückschritt gegenüber 1968? «Mit dem Konzept der Führung habe ich Mühe», sagt Largo. «Kinder werden vor allem über Vorbilder sozialisiert. Nur wenn wir als Eltern etwa punkto Konsumverhalten oder elektronischer Medien bessere Vorbilder abgeben, kommt es gut.»

Kritik von der eigenen Tochter

Der Basler Soziologieprofessor Ueli Mäder, der in seinem neuen Buch (Box) neben Fakten auch spannende Berichte vieler Zeitzeugen bietet, will 1968 gegenüber heute nicht abwerten. «Die damalige pädagogische Literatur etwa war durchaus differenziert.»

Vielleicht habe man in der Praxis zuweilen etwas übertrieben, schmunzelt er: «Meine eigene Tochter hat mir später auch vorgehalten, dass ich als Vater etwas zu locker war. Wenn sie mich gefragt hat, wann sie nach dem Ausgang zu Hause sein müsse, habe ich geantwortet: ‹Wann du es für richtig hältst.› Dabei hätte sie sich eine klare Antwort gewünscht.» Dennoch seien die pädagogischen Errungenschaften der 1968er sehr wichtig gewesen.

Bücher zu 1968 und Familie

Claus Koch, geboren 1950 in Göttingen, engagierte sich schon als Schüler für Selbstbestimmung. Später befasste er sich mit kindlicher Entwicklungspsychologie.
Claus Koch: 1968. Drei Generationen, eine Geschichte. Gütersloher Verlagshaus, 284 S., ca. Fr. 33.–.

Ueli Mäder, geboren 1951 in Beinwil, war bis 2016 Soziologieprofessor an der Uni Basel mit den Spezialgebieten Entwicklungssoziologie und Politische Soziologie.
Ueli Mäder: 68 – Was bleibt? Rotpunktverlag, 231 S., ca. Fr. 50.–.