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Cholera, Typhus und Pocken: Wie die Epidemien im 19. Jahrhundert den Ausbau des öffentlichen Gesundheitswesens gebracht haben.
Als zu Beginn der 1830er-Jahre in Europa erstmals die Cholera auftrat, war der Schock gross. In der Schweiz hatte man sich seit dem Ende des 17. Jahrhunderts in der Sicherheit gewiegt, dass Pandemien wie die Pest überwunden seien.
Deshalb waren die Instrumente, um gegen die Cholera vorzugehen, noch die gleichen wie in den Jahrhunderten zuvor: seuchenpolizeiliche Massnahmen wie die Quarantäne einzelner Personen, die Abriegelung von Gemeinden oder die Schliessung kantonaler und nationaler Grenzen. Eine ständige Gesundheitsbehörde existierte noch nicht. Brach eine Seuche aus, wurde jeweils für eine begrenzte Zeit ein Gremium eingesetzt, bestehend aus Ärzten und Apothekern.
Die Cholera traf auf eine Gesellschaft, die von Industrialisierung und Urbanisierung geprägt war. Von der Not getrieben, wanderten grosse Teile der ländlichen Bevölkerung in die Städte ab. Sie hofften, dort Arbeit zu finden. Die Städte waren auf dieses Wachstum nicht vorbereitet. Das zeigte sich zuerst in den Metropolen London und Paris.
Das traditionelle Seuchenregime konnte die Lage nicht entschärfen. Die vernachlässigten und vielfach überbelegten Wohnungen sowie die fehlende Abfall- und Abwasserentsorgung bildeten einen idealen Nährboden für die regelmässig auftretenden Infektionskrankheiten Typhus und Cholera. Das war die Geburtsstunde der Hygienebewegung. Gefordert wurden umfassende Massnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen.
Als das Städtewachstum im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in der Schweiz Fahrt aufnahm, wurden französische, englische und später deutsche Hygieniker zu Vorbildern. Das galt zunächst für die Wissensproduktion.
Die Cholera-Epidemien, deren Ursachen bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts unbekannt bleiben sollten, gaben der sich entwickelnden medizinischen Statistik starke Impulse. Mit detaillierten Erhebungen hoffte man, Erkenntnisse über ihre Entstehung und Verbreitung zu gewinnen. Die Bevölkerung wurde nach Wohnquartier, Wohnungstyp, Einkommensniveau und Alter klassifiziert und die Mortalitätsrate untersucht.
Dabei wurde deutlich, dass Armut und die mit ihr einhergehenden schlechten Lebensbedingungen die grösste Bedrohung für die Gesundheit darstellten.
Auch in der Umsetzung konnte man sich auf die Erfahrungen der genannten Länder stützen. Dort hatte sich die Assanierung – die Sanierung der Wasserversorgung, des Abwassersystems und der Ausbau der Abfallentsorgung – als zentrale Massnahme durchgesetzt. In der Schweiz brachte insbesondere die Cholera-Epidemie zu Beginn der 1860er-Jahre viel in Bewegung.
Nun begannen sich die Städte und die grösseren Gemeinden vertieft mit der Thematik auseinanderzusetzen. Ein frühes Beispiel dafür war die Stadt Zürich. Sie schuf 1860 die Funktion eines Stadtingenieurs und wählte den damals 27-jährigen Karl Bürkli in das Amt. Im Auftrag des Stadtrates unternahm er eine Studienreise in verschiedene Städte Frankreichs und Englands. Auf der Grundlage seines ausführlichen Berichts beschloss die Stadt, das Abwassersystem auszubauen.
Die Beispiele in der Schweiz zeigen, dass der Umsetzungsprozess – trotz der eindringlichen Forderungen der Hygieniker – meist einige Jahre oder sogar Jahrzehnte beanspruchte. Die Assanierung war mit hohen Kosten und einschneidenden staatlichen Eingriffen verbunden. Sie standen im Widerspruch zum liberalen Credo, das den Freiheits- und Eigentumsrechten höchste Priorität einräumte. Ihre Einschränkung zu Gunsten eines Rechts auf Gesundheit musste erstritten werden.
Zu den Vorkämpfern gehörte beispielsweise der linksfreisinnige Basler Journalist und Grossrat Friedrich Göttisheim. Er forderte:
Das Recht nach reiner Luft in Haus und Hof und bei seiner Arbeit; das Recht nach gesundem Wasser» müsse allen zukommen.
Die Einschränkung individueller Rechte betrachtete er als Vorbedingung, «um die Freiheit aller zu garantieren und für die Zukunft zu erhalten». Ging es um das allgemeine Wohl, betrachtete er staatliche Eingriffe als gerechtfertigt.
Die Legitimation staatlicher Massnahmen verlangte gesetzliche Grundlagen. Als Erster verabschiedete der Kanton St. Gallen 1874 ein Gesundheitsgesetz, welches Aufgaben vom Wohnungswesen über die Trinkwasserversorgung, die Abwasserkanalisation, das Gewerbe, die Schulen, die Lebensmittel bis hin zu den Friedhöfen definierte. Für den Vollzug wurden Behörden geschaffen, welche diese Aufgaben umsetzten und deren Einhaltung kontrollierten.
So entstanden vorerst in den Städten verschiedene spezialisierte Verwaltungszweige. Gestützt von der Hygienebewegung, entwickelten sich die Städte zu eigentlichen Laboratorien und Schrittmacherinnen.
Waren für die Seuchenbekämpfung bislang die Kantone zuständig, so mehrten sich im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Stimmen, die dem Bund mehr Kompetenzen verleihen wollten. Doch erst die Verfassungsrevision von 1874 erweiterte die Gesetzgebungskompetenzen der Bundesversammlung.
Fünf Jahre später verabschiedete der Bundesrat die Botschaft zu einem Epidemiengesetz mit dem Geltungsbereich für Pocken, Cholera und Fleckfieber. Festgehalten waren unter anderem die Beschaffung von Desinfektionsmitteln oder die Einrichtung von Isolierstationen. Für die Pockenprophylaxe war ein Impfobligatorium vorgesehen, das jedoch sehr umstritten war. Die Pocken waren nach wie vor die einzige Krankheit, gegen die es eine Schutzimpfung gab.
Das Gesetz wurde von der Bundesversammlung Anfang 1882 verabschiedet. Die Impfgegner wagten den Gegenangriff und sammelten in kurzer Zeit 80000 Referendumsunterschriften.
Aus föderalismuspolitischen Gründen gehörte auch das katholisch-konservative Lager zu den Gegnern eines vom Bund angeordneten Impfzwangs. Im Juli 1882 wurde das Epidemiengesetz massiv verworfen. Bereits 1886 legte der Bundesrat dem Parlament einen neuen Entwurf vor, diesmal ohne Impfobligatorium. Nun passierte das Gesetz ohne Widerstand. In der Folge wurde 1889 Friedrich Schmid als erster Gesundheitsbeamter auf Bundesebene eingestellt. Als vier Jahre später das Schweizerische Gesundheitsamt gegründet wurde, übernahm er die Direktion.
* Die Autorinnen haben das Buch «Von der Seuchenpolizei zu Public Health» verfasst. Erschienen ist es 2017 im Chronos-Verlag. 344 Seiten, Fr. 42.–.