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Hirnforscher Giovanni Frazzetto erklärt, was die Neurowissenschaft zum Verständnis unserer Gefühlswelt beitragen kann, und was nicht. Wichtig ist: Sich immer schön zu belohnen. Das fördert Kreativität und Leistungsfähigkeit.
Herr Frazzetto*, Neurowissenschafter verbringen bekanntlich viel Zeit im Labor mit der Beobachtung von Mäusen. Das klingt nach einer einsamen und zugleich fast ein wenig absurden Tätigkeit.
Giovanni Frazzetto: Für Aussenstehende mag Mäusebeobachtung durchaus absurd klingen und offen gestanden ist es nicht immer ein Vergnügen. Zum Teil habe ich wochenlang mehrere Stunden täglich im Dunkeln damit zugebracht, das zärtliche Verhalten von Mäusemüttern auf Notizblöcken zu dokumentieren. Aber das Spannende ist: Man kann tatsächlich sehen, ob sich eine Mäusemutter gut oder schlecht um ihren Nachwuchs kümmert.
Neurowissenschaften sind sehr hip. Werden Sie mit Fragen bestürmt, wenn Sie abends den Laborkittel ausziehen?
Es stimmt, dass mein Beruf grosses Interesse weckt. Wenn ich ausserdem hinzufüge, dass ich Emotionen erforsche, gibt es für meine Gesprächspartner oft kein Halten mehr.
Inwiefern?
Ich soll ihnen erklären, wie sie negativen Gefühlen entkommen können, ein glücklicheres Leben führen. Dabei fallen mir häufig zwei Dinge auf: Zum einen unterscheiden Menschen oft zwischen guten und schlechten Gefühlen, was ich für bedauerlich halte. Ich persönlich glaube, dass wir eine Emotion wie etwa Schuld brauchen, um unsere Fehler zu verstehen und Wut beispielsweise, um uns selbst zu verteidigen. Zum anderen ist das Erstaunen oft gross, dass ich nicht immer mit einer Antwort auf die vielen Fragen aufwarten kann, obwohl ich doch das Gehirn studiere.
Ehrlich gesagt ging es mir an einer Stelle in Ihrem Buch ähnlich.
War es das Kapitel über Schuld?
Genau! Ich wollte von Ihnen hören, was die Neurowissenschaft zum Thema Schuld beitragen kann. Sie jedoch sprechen davon, dass es letztlich darum geht, anderen bzw. uns selbst zu vergeben. Damit haben Sie gewiss recht, neu ist die Erkenntnis allerdings nicht.
Möglicherweise waren Sie frustriert, als es um die Gehirnscans zum Sitz der Schuldgefühle ging. Diese Bilder vom Hirn in bunten Farben, die mit der komplizierten Technik der Magnetresonanz erstellt werden, sind zweifellos faszinierend, ganz gleich ob es um Schuld, Angst oder auch Liebe geht. Ein besonders plastisches Beispiel ist übrigens der Orgasmus: Sie müssen sich vorstellen, dass das Gehirn dann aussieht, als seien wir auf Heroin. Doch letztlich bringt es mich nicht weiter, Emotionen mit rein neurowissenschaftlichen Augen zu betrachten.
Erwarten wir also zu viel von der Hirnforschung?
Es gibt seit einigen Jahren ein Phänomen, das ich als neue Kultur des Glaubens bezeichne – eine Art Neurokultur, die sich in den Medien, in der Literatur, selbst in Theaterstücken wiederfindet und inzwischen bereits Gegenstand mehrerer soziologischer Studien war. Wir sind davon überzeugt, dass das Gehirn uns alles über unser Leben, über unsere Identität erklären kann. Dieser Glaube stört mich ungemein und war für mich auch der Auslöser, das Buch zu schreiben. Wir müssen nicht aufhören, das Gehirn zu begreifen, doch zugleich gibt es so viele andere Wege, uns selbst zu verstehen.
Möglicherweise hätte ich mit einem anderen Abschnitt Ihres Buchs beginnen sollen. Im Kapitel über die Angst schreiben Sie, dass kein Gefühl so gut erforscht sei wie die Angst, aber die gelebte Erfahrung der Angst letztlich unerforscht bleibe.
So ist es. Denn was ich als Mensch, als Sohn, als Freund, als Liebhaber erlebe, kann mir die Neurowissenschaft nicht erklären. Wissen Sie, was die häufigste Google-Anfrage der letzten Jahre war?
Keine Ahnung!
«Was ist Liebe?» Den Erfolg aber dieser möglicherweise komplexesten aller Gefühlsregungen kann uns die Neurowissenschaft nicht vorhersagen. Und doch gibt es in den USA inzwischen eine sehr populäre Form der Partnervermittlung, das sogenannte Neuro-Online-Dating. Millionen von Nutzern wird suggeriert, dass die Gehirnchemie sie vor dem Scheitern in Herzensangelegenheiten bewahren kann. Es gibt ein Partnervermittlungssystem, bei dem vier Hauptpersönlichkeitstypen anhand von Neurotransmittern wie Dopamin und Serotonin sowie den Sexhormonen Testosteron und Östrogen unterschieden werden. Da ich sehr neugierig war, habe ich mich bei dieser Partnerbörse angemeldet, um das System zu testen. Bei einer der Fragen wird man dazu aufgefordert, die Länge von Zeige- und Ringfinger der rechten Hand zu messen.
Mit welchem Ergebnis?
Zwischen den Flirttypen, die auf der Website beschrieben werden, und meinen Eigenschaften liessen sich durchaus Übereinstimmungen feststellen – und doch möchte ich ungern in meinem Wesen auf ein paar Eigenschaften reduziert werden. Ich halte es für fraglich, dass Online-Partnerbörsen mittels neurowissenschaftlicher Methoden effektiver sind als die traditionellen Verfahren.
Offenbar haben wir einen funktionalen Blick auf das Gehirn. Welche Eigenschaft unseres Denkorgans schätzen Sie besonders?
Das Gehirn und seine Neuronen bestehen aus unglaublich vielen weitverzweigten Wegen und jede gezielte, selbst noch so kleine Aktion führt zum Entstehen neuer neuraler Pfade und damit neuer Verhaltensmuster. Diese wunderbare Eigenschaft des Hirns, variabel und lernfähig zu sein, nennt sich Plastizität. Weil wir Menschen aber Gewohnheitstiere sind, nehmen wir häufig immer denselben und vertrauten Weg.
Sie sprechen von der positiven Macht der Gewohnheit. Was bedeutet das im Hinblick auf negative Gefühle, die wir überwinden wollen?
Wenn wir die Plastizität des Hirns nutzen wollen, müssen wir eine andere Route einschlagen, um unser Ziel zu erreichen. Im Hinblick auf Ängste bedeutet dies beispielsweise, sich selbst im positiven Sinne zu konditionieren und Verhalten schrittweise so zu verändern, dass die Ängste den Menschen nicht mehr überwältigen. Das Gehirn gewöhnt sich daran, anders zu funktionieren – es ist wie ein mentales Training. Aus diesem Grund sage ich immer: Schlag einen alternativen Weg ein!
Wie funktioniert das in der Praxis?
Manche Menschen glauben, dass es ihnen hilft, sich zu sorgen, weil es ihnen Sicherheit vermittelt. Das Gehirn kann jedoch lernen, die Aufmerksamkeit von Sorgen und Ängsten abzulenken. Studien vor und nach Therapien haben gezeigt, dass sich das Gehirn während der Therapie – sei es eine Psychoanalyse oder eine andere Therapie – neu organisiert – es entsteht eine neue mentale Realität. Die hauptsächlich beteiligte Gehirnregion beim Thema Angst ist die sogenannte Amygdala, eine Art Nervenkern, der wegen seiner Form nach dem griechischen Wort Mandel benannt ist. Ohne sie wüssten wir vermutlich gar nicht, was Angst bedeutet! Dieser Mandelkern verändert sich nach einer bestimmten Anzahl therapeutischer Sitzungen. Da gibt es einen klar messbaren Effekt auf unseren Körper und unser Gehirn. Ein Therapeut greift also tief in unser Gehirn ein, wie ein Neurochirurg.
Wie beeinflusst dieses Wissen Ihren Alltag? Wachen Sie bereits morgens mit dem Gedanken an die Lernfähigkeit Ihres Gehirns auf?
Ehrlich gesagt, ja! Es ist mir sehr bewusst, dass alles, was ich tue, eine Wirkung auf mich ausübt: Mein Gehirn trägt sozusagen die Signatur der Vergangenheit. Und diesen Kontrast zwischen dem, was sich bereits ausgewirkt hat, und dem, was ich noch verändern kann, empfinde ich manchmal sogar als Obsession. Auch ich bin oft in meinen Gewohnheiten eingesperrt und weiss daher, wie schwierig Veränderung sein kann, aber auch, dass es machbar ist.
Wir sollen ja nicht nur leistungsfähig sein, sondern auch kreativ. Was beflügelt unsere Inspiration?
Das fand ich vor Jahren heraus, als ich damit beschäftigt war, ein Gedicht zu vollenden und keinen passenden Schluss dafür fand. Genau in dieser Phase flog ich nach New York, in eine Stadt, die ich schon immer als aufregend empfunden habe. Die neue Umgebung, das schöne Gefühl, in New York zu sein, die nächtlichen Sterne – all das beflügelte mich so, dass die letzten Zeilen meines Sonetts schnell gefunden waren. Was ich dadurch gelernt habe, ist Folgendes: Allein wenn sich die Laune nur kurz aufhellt, verbessert dies die Fähigkeit zu denken und damit auch unsere Kreativität. Verantwortlich dafür im Gehirn ist ein Zentrum, das als Belohnungssystem bezeichnet wird und an dem auch der Neurotransmitter Dopamin beteiligt ist. Dieses Belohnungsneuron macht uns aktiv, motiviert, schärft den Geist und die Willenskraft.
Das heisst auch, dass es gar nicht wichtig genug sein kann, sich schöne Dinge vorzunehmen.
Stimmt. Das Gehirn unterscheidet nämlich zwischen der Erwartung von Lust und der Lust selbst. Die Ausschüttung von Dopamin erfolgt nicht im Moment der Belohnung, sondern bereits in den Momenten, in denen wir etwas freudig erwarten, wie beispielsweise die Essenseinladung bei Freunden oder den nächsten Urlaub. Sagt man nicht auf Deutsch: «Vorfreude ist die schönste Freude?»