Generationen-Serie
Es tut nicht weh: Wie es ist, wenn man 50 Jahre alt wird und es gar nicht merkt

Als Teenager habe ich mir geschworen, mit 50 Jahren kein Spiesser zu sein. Seit exakt 50 Tagen bin ich nun fünfzig... und weit davon entfernt, mich zum Spiesser zu entwickeln. Zumindest denke ich das mit funkelnder Überzeugung. Fragt man allerdings meine 19-jährigen Zwillingstöchter, so ist der Fall nicht derart eindeutig.

Rainer Sommerhalder
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Rainer Sommerhalder
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Nicht mehr auf Weltrekord-Kurs wie vor 30 Jahren in der Badener Aue, ...
... dafür mit doppelt so viel Kinn.

Rainer Sommerhalder

HO

Lasst mich doch alle in Ruhe, ihr Besserwisser! Den 50. Geburtstag zu feiern, ist schrecklich. Warum kann man nicht einfach gratulieren, ohne diese eine Frage zu stellen: Wie fühlt man sich so mit fünfzig? Ich weigere mich standhaft, darüber auch nur eine Sekunde nachzudenken.

Als Antwort leider keine gute Idee. Tönt irgendwie nach Sinnkrise. So sehr, dass die Ehefrau erste Anzeichen einer Altersdepression vermutet. Dass der Kollege fragt, wann ich meinen nächsten Marathon laufe. Und dass der Chef dich bittet, im Rahmen dieser Serie darüber zu schreiben, wie es so sei mit fünfzig. Es gebe schliesslich Themen genug. Auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr gefragt zu sein. Die ersten körperlichen Verschleisserscheinungen. Oder die innere Leere, wenn die Kinder flügge werden. Eine ziemlich negativ angehauchte Themenpalette. Finden Sie nicht auch?

Generationenserie

Die Schweizerinnen und Schweizer werden immer älter. Es leben Generationen gleichzeitig, die komplett unterschiedlich sozialisiert wurden. Wie ticken die verschiedenen Altersgruppen? Was ist ihr Lebensgefühl, was freut und was beschäftigt sie? In einer Serie gehen wir den Generationen nach. Heute: Die 50-Jährigen, beschrieben von Sportredaktor Rainer Sommerhalder. Morgen beschreibt Redaktorin Rita Kohn, wie es ist, wenn die Zahl 60 näher kommt.

Bisher erschienen:

- Die 30-Jährigen: Es nagt der Zweifel, es drängt die Zeit

- Mit 40 haben Frauen zu viel zu tun, um die Krise zu haben

Fünfzig zu werden, muss gemäss öffentlicher Wahrnehmung schlimm sein. Eine Art Krankheit, die unheilbar ist. Ein Augenblick, in dem der Zerfall den Turbo zündet. Ich glaube nicht, dass meine Weigerung, darüber nachzudenken, einer inneren Angst entspringt. Vielleicht sieht das der geübte Psychologe anders. Würde mir gar raten, seine Praxis aufzusuchen. Von einer ernsten Lebenskrise sprechen. Für Konfrontation mit dem Thema anstatt für Verdrängung plädieren. Ich aber sage: Fünfzig zu sein, tut nicht weh! Zumindest auf der psychischen Ebene nicht.

Ich arbeite seit 30 Jahren für das gleiche Unternehmen, habe 25 Jahre in demselben Sportclub gewirkt und bin seit mehr als meinem halben Leben mit der gleichen Frau zusammen. Ich würde mich als konstant und verlässlich bezeichnen. Und ich habe gewisse Prinzipien. Was ich tue, mache ich aus Überzeugung. So habe ich mir bereits mit 20 Jahren vorgestellt, wie mein Leben verlaufen könnte und was mir wichtig ist im selben. Selbstverständlich ist längst nicht alles so eingetroffen, wie ich es mir ausgemalt habe. Ich bin weder Millionär, noch fahre ich eine Corvette. Und in Kalifornien wohne ich erst recht nicht.

Ich fühle, als wäre ich gerade der Pubertät entsprungen. Ich freue mich aufs Leben.

(Quelle: Rainer Sommerhalder)

Doch die Leitplanken meiner Entwicklung haben in den letzten 30 Jahren ihre Gültigkeit behalten. Und was mir persönlich besonders gefällt – ich denke und empfinde nach wie vor wie als 20-Jähriger. Damals fragte ich mich beim Mustern älterer Leute, was wohl in einem vorgeht, wenn man erst mal fünfzig ist. Spürt man den Zerschleiss? Sucht man die Flucht vor dem Alter? Stürzt man gar in eine Krise?

Heute weiss ich: Es hat sich im Grunde gar nichts verändert. Ich fühle, als wäre ich gerade der Pubertät entsprungen. Ich freue mich aufs Leben. Ich habe Pläne und Ziele und vielleicht sogar mehr Träume als damals. Selbst die Corvette ist noch nicht abgehakt. Nur sagt mir die Lebenserfahrung inzwischen, dass sie wohl auch als Traum enden wird.

Lesetipp für Fünfzigjährige

Robert M. Pirsig: «Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten»

Leider wurde dieses Buch, mit dem Robert Maynard Pirsig Erfolg hatte, ein «Kultbuch». Gegen den Erfolg hatte er nichts einzuwenden, aber das Etikett störte ihn. Gemeint war das Werk als ernsthafter Beitrag zur Philosophie. Und gelesen wurde es als «Road Movie», als Reise zu sich selbst oder was immer Leute im Jahr 1974 (da erschien es) und seither gerade beschäftigte.

Warum es gerade Menschen um die 50 lesen sollten, hängt auch damit zusammen. Angelegt als Geschichte der Aufarbeitung einer Lebenskrise – der hochintelligente, hochbegabte Pirsig hatte Mühe mit dem US-Uni-Betrieb und verbrachte einige Zeit in einem Nervensanatorium, – die auf einer Motorradtour mit seinem Sohn quer durchs Land bewältigt werden sollte. Erzählt wird vom Fahren, Campen und eben von der Beschäftigung mit dem Innenleben eines Motorrads. Philosophisch versucht Pirsig mit dem Begriff der «Qualität» die dualistische Weltsicht, die seit den Griechen unser Denken beherrscht, zu überwinden. Ein defekter Töff als Anlass zu einem beobachtenden, nicht a priori (mit Begriffen) unterscheidenden Denken. (chb)

Die Erkenntnis, dass der Geist eines 50-Jährigen jugendlich bleiben kann, ist eine grosse Befriedigung. Deswegen bin ich mir sicher, kein Spiesser zu sein. Ab und zu sagt mir gar jemand, ich sei ein Kindskopf, oder fordert mich auf, endlich erwachsen zu werden. Dann danke ich für das Kompliment. Ich will mich nicht ändern, nur weil ich älter werde. Selbstverständlich büsse ich für den Starrsinn. Drei Stunden Sport am Stück hinterlassen andere Spuren als in Jugendjahren.

Die Klettertour im Gebirge traue ich mir zwar immer noch zu, die Umsetzung allerdings scheitert am ersten kleineren Fels. Und das Gefühl, das nächste Mal zu gewinnen, bleibt ein unerschütterliches Merkmal bei jedem verlorenen Spiel gegen einen 20 Jahre jüngeren Gegner. Der Realismus gehört nun mal nicht zum jugendlichen Denken. Auch mit fünfzig nicht.

Eine Stütze für zwei Generationen

Natürlich gibt es diese Momente, in denen man sich fragt, ob das Ablaufdatum näher rückt. Zum Beispiel wenn als nächste Reise selbst eine Kreuzfahrt einen kurzen Gedanken wert ist. Oder man im Ausverkauf vor der um 50 Prozent reduzierten Golfausrüstung stehen bleibt. Dass ich in den vergangenen Wochen einen Tenniskurs besucht, die letzten Ferien mit Verwandten verbracht oder soeben um Mitternacht am Fernseher auf den «Silvesterstadl» umgeschaltet habe, möchte ich hingegen nicht überbewerten.

Viel wichtiger erscheint mir, an dieser Stelle eine Lanze für alle 50-Jährigen zu brechen. Wissen Sie, dass diese Altersgruppe tägliche Höchstleistungen erbringt? Und dies auf mehreren Ebenen. Nie im Leben ist man so vielseitig gefordert. Eltern und Schwiegereltern sind in einem Alter, in dem sie zunehmend Unterstützung benötigen. Den Altersheim-Übertritt des Vaters organisieren, den Papierkram der Mutter übernehmen – regelmässig manage ich Dinge, für die es zuvor keinen Grund gab.

Gleichzeitig sind die eigenen Kinder irgendwo zwischen Abflug und Wahnsinn. 19-jährige Zwillingstöchter mitten in der Schlussphase der Ausbildung und bestens geübt in spätpubertierenden Eruptionen, sind kein Pappenstiel. Ich danke zwar Journalistenkollegin Nicole Althaus für eine wunderbare Abhandlung in der «NZZ am Sonntag» über Eltern von Jugendlichen in der Reifezeit. Als «die schönste Zeit meines Lebens» würde ich die Herausforderungen mit den eigenen Kindern in der Adoleszenz im Gegensatz zu Althaus jedoch nie bezeichnen. Ganz im Gegenteil.

Die Skala der Konfrontationsstärke zwischen Heranwachsenden und ihren Eltern ist gegen oben leider offen. Das jüngste Beispiel: Eine Stunde vor dem Rückflug aus den Ferien sagt mir die eine Tochter spontan, dass sie nicht ins Flugzeug steigen, sondern bis auf weiteres bei ihrem Freund, einem amerikanischen Strassenmusiker in Südflorida, bleiben werde. Sie ohne Geld, er auch nicht gerade mit der dicken Brieftasche. Zum Glück haben wir solche Momente während der letzten Jahre in familieninternen Trainingslagern zur Genüge erprobt und üben uns in Gelassenheit. Irgendwann kehren alle ins gemachte Nest zurück.

Gelassenheit macht sich breit

Mit 50 Jahren ist man nicht nur im Sandwich zwischen zwei anspruchsvollen Familiengenerationen. Herausforderungen ergeben sich auch im Beruf und in der Freizeit. «Jetzt, wo die Kinder selbstständig werden, könntest du für den Gemeinderat kandidieren», sagte mir vor zwei Jahren ein Bekannter. Wieso eigentlich nicht? Dienst für die Gemeinschaft zu leisten, gehört schliesslich zur Kernkompetenz von 50-Jährigen. Eine besonders dicke Haut brauche man aber für dieses Amt, gab es die Warnung kostenlos dazu.

Ich müsste lügen, würde ich mich als dickhäutig bezeichnen. Rein physiologisch betrachtet, nimmt die Hautdicke mit dem Alter ohnehin ab. Dass ich nach zwei intensiven Jahren in meinem neuen liebsten Hobby trotz Fehlen einer dicken Haut nie einen dicken Hals gekriegt habe, liegt an einer anderen Eigenschaft, die von mir Besitz ergriffen hat: Gelassenheit. Das nennt man dann wohl Lebenserfahrung. Oder plakativer umschrieben: Das Dach über mir ist in den letzten 30 Jahren derart oft eingestürzt, dass mir die Angst davor abhandengekommen ist. Eine überaus nützliche Wesensart, leider erst mit fünfzig so richtig entdeckt.

Über was sonst soll ein 50-Jähriger noch schreiben? «Vielleicht über Sex», sagt meine Frau beim Brainstorming, «das erzeugt Klicks auf der Homepage.» Aus dem Kinderzimmer ertönt ein entschlossenes «Bloss nicht!». Also lassen wir das und konzentrieren uns zum Schluss gleichwohl auf das moderne Feld der Klicks. Wenn ich von mir behaupte, wie ein 20-Jähriger zu denken, dann erinnere ich mich an mich vor 30 Jahren.

Aber wie ein heutiger 20-Jähriger? Um Himmels willen, bloss nicht! Die Lebensweisheiten dank Reality-TV entdecken, das Schönheitsideal durch Instagram definieren und die Weltanschauung mit 30-zeiligen Facebook-Posts implementieren – das ist definitiv nicht meine Welt. Ob ich deswegen aus Sicht dieser Generation zum Spiesser tauge? Sorry, als ich mir 1989 schwor, nie einer zu werden, wusste ich noch nicht, wie sich die Jungen im Jahr 2019 ins Bild setzen werden.

PS: Soeben kam mir wieder in den Sinn, dass ich auch noch kurz die beginnende Vergesslichkeit ansprechen wollte, die ich mit fünfzig bei mir zu entdecken glaube. Ging leider vergessen.