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Leben
Judy Millars Gemälde entstehen mit vollem Körpereinsatz auf dem Boden. Dabei trägt die Neuseeländerin die Farbe nicht auf, sondern ab.
Resultat ist energiegeladene, ausdrucksstarke Malerei, der man sich nicht entziehen kann. Zu sehen ist sie im Kunstmuseum St. Gallen.
Judy Millars Gemälde sollte man mit einen Warnhinweis versehen, wie man ihn aus der Werbung kennt: Für Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker. Denn die Malerei der 62-jährigen Neuseeländerin, entfaltet eine körperliche Wirkung, der man sich nicht entziehen kann. Dies hat mit dem vollen Körpereinsatz zu tun, der dahintersteckt. Judy Millar arbeitet am Boden, auf den Knien. Bei der physisch anstrengenden Arbeit verliert sie den Überblick:
«Je körperlicher man arbeitet, desto unwichtiger sind die Augen.»
In dieser Malerei kann man sich verlieren. Die sich windenden, schraubenden Farbstränge verführen das Auge, man gibt sich willenlos den betörenden Wirbeln hin, versenkt sich in den Untiefen der abstrakten Farbräume.
Was aussieht wie mit riesigen Pinseln aufgetragene Striche, ist in Tat und Wahrheit das Gegenteil davon – das, was von der Farbe übrig bleibt, wenn sie von der Künstlerin mit Stoffballen von der Leinwand abgetragen oder mit einem mit Sand gefüllten Plastiksack darüber geschoben wurde. Pinsel kommen keine zum Einsatz, Judy Millar spricht von Mimesis – Nachahmung:
«Es sieht mehr nach Pinselstrich aus, als es ein echter Pinselstrich tun würde.»
Auch Sprayfarbe verwendet sie: Sie wolle das Gemälde attackieren, sagt die zierliche Künstlerin mit der sanften Ausstrahlung, der man solche Angriffslust nicht zutraut.
Judy Millar erhält im Kunstmuseum St. Gallen ihre erste grosse Ausstellung in einem europäischen Museum mit Werken aus 40 Jahren künstlerischer Tätigkeit. In Neuseeland, fern der Geschichte der europäischen Malerei, konnte sie sich unbefangen darin verorten und die Umkehrung des traditionellen Malens wagen.
Zwei Räume werden von der Farbe Rot dominiert, die Werkserie stammt aus dem Jahr 2002. Dynamische Schlaufen in Rotbraun oder Purpur überziehen flächig die Leinwand; vertikale Untermalungen in kontrastierendem Rosa, Pink oder Orange erzeugen eine Tiefenwirkung.
Von 2008 stammen düstere Gemälde, die an Holzschnitte erinnern und denen etwas Gewalttätiges anhaftet. Die Farbe wurde mit Hilfe eines Rakels von der Leinwand abgezogen. Ähnlich unheimlich sind die beiden Gemälde im Foyer, die auf den mythischen Fährmann Charon anspielen, der die Seelen über den Fluss Styx in die Unterwelt übersetzt.
Beeindruckend sind die Setzungen im Oberlichtsaal, hier wird die Malerei skulptural. Sechs unregelmässig geformte, riesige Leinwände, die grösste misst rund acht auf drei Meter, liegen und stehen frech im Raum, nehmen ihn richtiggehend in Beschlag. «Ich wollte ausloten, wie sehr ich die Architektur mit einer gemalten Form stören kann», sagt Judy Millar. Inspiriert dazu wurde sie von Gemälden aus barocken Kirchen, die für die Restaurierung abgehängt wurden. Dadurch wurden deren oft seltsame Masse ersichtlich, die nie einfach nur rechteckig oder quadratisch sind. Die Gemälde entstanden speziell für den Oberlichtsaal im Atelier der Künstlerin nördlich von Auckland. Die Rahmen wurden zerlegt und kamen per Schiff über Rotterdam nach Europa, die mit Acrylfarbe bemalte Vinylfolie wurde zusammengerollt.
Die Bilder im Oberlichtsaal beziehen sich auf die Werke, welche Judy Millar 2009 anlässlich der Biennale von Venedig im neuseeländischen Pavillon in der spätbarocken Kirche La Maddalena zeigte. «Giraffe, bottle, gun», lautet der Titel ihres dortigen Auftritts, der sie einem breiteren europäischen Publikum bekannt gemacht hat. Und tatsächlich weckt die Form mancher Leinwände im Oberlichtsaal Assoziationen an die Umrisse einer Giraffe, Flasche oder Waffe. Es sind die skizzenhaftesten, spontansten Arbeiten der Ausstellung. Judy Millar hat die Bilder, die sie für Venedig stark vergrössert auf Planen drucken liess, nochmals gemalt und zitiert damit sich selbst. Solche Umwandlungsprozesse findet die Künstlerin spannend: «Mich interessiert, wie wir zum dem werden, was wir sind. Auch in unseren Leben wiederholen wir Dinge, lösen sie auf, bewegen und transformieren sie.»