Stiller Has geht wieder auf Tournee, diesmal nur als Duo. Ehe es losgeht,
trafen wir Endo Anaconda im Emmental und lernten an ihm ein paar überraschende Seiten kennen.
Endo Anaconda, als Aargauer hatte ich mich gefreut, Sie in Ihrem neuen Wohnort Erlinsbach AG, im Volksmund «Speuz» genannt, zu besuchen. Nun haben Sie mich ins Emmental in ein altes Bauernhaus in Trub zu Füssen des Napfs bestellt. Sind Sie dem Aargau bereits wieder untreu geworden?
Nein, in Erlinsbach bin ich nur Wochenaufenthalter, in der Wohnung meiner Freundin. Zur Hauptsache bin ich hier. Meine Freundin arbeitet in der Medienbranche in Aarau und ist viel unterwegs. Das hat doch keinen Wert, wenn ich immer in diesem Erlinsbach hocke, wobei dieser Ort für mich auch Vorteile hat. Der Tontechniker wohnt dort, und die Band probt in Olten.
Gefällt es Ihnen im Aargau?
Man kann überall sein in der Schweiz, in der Deutschschweiz ebenso wie im Tessin oder in der Westschweiz, wobei mein Französisch miserabel ist. Aber schön ist es überall, auch in Wallisellen. Im Gegensatz zu geschätzten 80 Prozent der Weltbevölkerung kann man überall in der Schweiz ein gutes Leben führen.
Das werden Patrioten gerne hören.
Ich sage aber gleichzeitig, dass ich ein Weltbürger bin, und auf dem Weg zu einer besseren Menschheit müsste man erst einmal den Kantönligeist überwinden und dann über die nationalen Grenzen hinausdenken.
Das mit dem Kantönligeist ist den Erlinsbachern vertraut, es gibt ja ein benachbartes Erlinsbach SO.
Ja, aber die verstehen sich schon. Erlinsbach könnte so etwas wie das Camp David werden, damit man in der Schweiz den Kantönligeist überwindet. Obwohl nur Wochenaufenthalter, habe ich mich beim Köhlerverein Speuz eintragen lassen, der beide Erlinsbach verbindet, und auch die 1.-August-Feier machen beide Gemeinden gemeinsam. Ich weiss das, weil ich die Rede halten durfte.
Auf höherer Ebene sieht es anders aus: America first, Switzerland first, es gibt viele nationale und nationalistische Strömungen.
Ja, und das wird uns wohl noch das Genick brechen, vor allem, wenn ich an das Klimaproblem denke. Die momentan herrschenden Strukturen machen es unmöglich, dieses zu lösen, und das ist existenziell, nicht für die Welt, aber für die menschliche Rasse, und es wäre doch schade, wenn niemand mehr unsere Geschichte fortschreiben würde. Ich habe die Menschheit immer noch gern, selbst wenn ich keine Kinder hätte, fände ich es schade, wenn sie untergehen würde. Noch besteht etwas Hoffnung.
Inwiefern?
Es wird bald offensichtlich sein, dass die Klimakatastrophe nicht bloss Fake News sind. Vielleicht sieht das dann sogar der Trump ein, wenn es ihm den Golfplatz weggeschwemmt hat. Ich glaube, dass irgendwann der Druck von aussen – also durch das Klima und die Natur ganz allgemein – so gross sein wird, dass man zum Handeln gezwungen ist, und zwar durch eine internationale Zivilgemeinschaft. Ob ich das noch erlebe, weiss ich nicht, aber ich bin kein Pessimist.
Dass ein Umdenken stattfindet, hofft man schon lange – passiert ist wenig.
Stimmt, die Klimaziele erfüllt kaum jemand, man sündigt weiter und kauft ausländische Klimazertifikate als Ablass. Ein Witz. Aber noch zehn solche Sommer wie den, den wir gerade hinter uns haben, oder noch ein paar Hurrikans der Stufe 5, dann werden es alle kapieren.
Man traut es sich fast nicht zu sagen, aber ich fand den Sommer super.
Ich gar nicht, mir war es viel zu heiss. Ich habe mich hier verbarrikadiert und einen Baulüfter gekauft. Für mich waren diese Temperaturen bedrohlich, ich kriegte Herzprobleme und keine Luft mehr. Vielleicht hat das mit einer Malaria zu tun, die ich mal nach einem Thailand-Aufenthalt hatte. Hitze erinnert mich wieder daran, ich bekomme Schübe.
Gehe ich recht in der Annahme, dass der Herbst Ihre liebste Jahreszeit ist?
Ja, ich bin ja auch im Herbst geboren, Jungfrau, ordnungsliebend – das sieht man, oder ...?
... ja, ich habe mir das hier ehrlich gesagt weniger aufgeräumt vorgestellt ...
... eben. Ja, ich liebe den Herbst, diese Farben und Stimmungen, ich bin ein visueller Mensch. Und ich liebe diese Emmentaler Gegend mit ihren Högern, wobei, immer möchte ich nicht hier sein, manchmal wird es mir zu eng. Ich brauche mindestens zwei Wohnsitze.
Und wie halten Sie es mit luftigen Höhen wie auf dem Pilatus Kulm, einer der ersten Orte Ihrer Tournee? Waren Sie schon mal oben?
Ja, wir haben an einem Open Air gespielt. Man sah wegen des Nebels keine Hand vor der andern, es waren 400, 500 Leute da, aber man hörte sie nur applaudieren. Ein spezielles Gefühl, aber es ist glaub doch besser, wenn wir diesmal jetzt drinnen auftreten ...
Haben Sie keine Höhenangst?
Nein, und ich werde auch nicht seekrank. Ich liebe Bergbahnen, ich mag analoge mechanische Technik. Das ist mir näher als das Digitale. Ich plädiere nach wie für eine autonome Intelligenz, deshalb habe ich auch kein iPhone.
Nicht mal ein Handy?
Doch (holt ein gelbes und gekrümmtes Ding aus der Tasche). Sieht aus wie ein Rasierapparat oder ein Womanizer. (lacht) Aber telefonieren geht, SMS mit Brille auch noch knapp.
Was haben Sie gegen neue Technologien?
Ich bin nicht prinzipiell gegen neue Technologien, aber ich brauche keinen Kühlschrank, der mir sagt, welches mein Lieblingsjoghurt ist, denn das wechselt täglich. Und ich brauche auch keine smarte Unterhose, die mich ans Wechseln der Unterhose erinnert.
Sie vielleicht nicht, andere schon.
Das Problem ist: 30 bis 40 Prozent unserer Arbeitsplätze werden durch die Digitalisierung überflüssig. Die Politik hat keine Antwort darauf. Aber etwas muss getan werden, sonst regiert irgendwann mal der Pöbel. Anzeichen dazu gibt es bereits in Deutschland.
Was müsste denn getan werden?
Es wird nicht anders gehen als durch eine Umverteilung. Meine Vision ist, dass alle sozialpartnerschaftlich arbeiten können, im Durchschnitt halt weniger als jetzt. Ich habe mich auch fürs bedingungslose Grundeinkommen eingesetzt.
Visionen darf man haben.
Ja, aber ich bin zumindest so gut es geht konsequent. Ich kann nicht gleichzeitig für eine Zivilgesellschaft plädieren, die sich für mehr Gerechtigkeit einsetzt, und ein modernes Smartphone spazieren führen, das durch Ausbeutung in der Dritten Welt hergestellt wird.
Man darf keine Freude am Sommer haben und keine Freude am Smartphone. Müssen wir denn immer nur noch mit einem schlechten Gewissen durch die Welt gehen?
Nein, muss man nicht. Mir geht es nur darum, dass man auch mal an die Kehrseite denkt. Das Proletariat hat sich von der Ersten in die Dritte Welt verlagert. Wenn wir nicht teilen, kommen die Menschen aus der Dritten Welt zu uns. Wenn ich irgendwo im Kongo leben würde und alle paar Tage käme eine andere Miliz vorbei, um Leute abzuschlachten, würde ich auch dorthin wollen, wo ich bessere Perspektiven habe.
Also hierher?
Ja, deshalb müssen wir den Menschen in ihren Heimatländern eine bessere Perspektive bieten. Aber das geht nur, wenn wir endlich teilen, sonst muss man sich nicht wundern, wenn uns jene, die diesen Reichtum ermöglichen und selber nichts haben, früher oder später an den Kragen wollen. Es muss einen gerechten Ausgleich geben. Stattdessen gilt bei uns immer noch mehr und noch mehr. Unsere Politik ist durch die Ökonomie diktiert, es herrscht eine grosse Finanzhektik. Immer geht es ums Geld, und wir tragen keine Sorge zu den Ressourcen.
Wir handeln also unvernünftig?
Ja, die Leute kaufen alle paar Jahre ein neues Auto, nur weil es steuerlich günstiger ist. Absurd. Meinen Skoda Octavia fahre ich zu Boden, ich habe ihn jetzt 8 Jahre, und er hat 150 000 Kilometer drauf. Aber er läuft. Ich werfe meine Sachen nicht fort, ich bringe sie wenn möglich zum Reparieren. Und ich kaufe auch nicht jeden Scheissdreck. (lacht)
Wie soll man die Leute ändern?
Wenn ich das wüsste. Ich glaube, dass man in unserer Politik nicht immer Kompromisse machen kann, gerade in Fragen, welche die Allgemeinheit betreffen.
Verfolgen Sie die Schweizer Politik?
Ja, aber sie dünkt mich etwas langweilig und berechenbar. Ich habe Respekt vor unseren Institutionen, aber wirklich repräsentiert fühle ich mich nicht. Ich finde, dass viele – nicht alle – Politiker reine Karrieristen sind und eine Lobby hinter sich haben, denen sie sich verpflichtet fühlen. Das ist doch auch fad.
Am Bahnhofkiosk Trubschachen haben Sie heute Morgen drei Zeitungen gekauft, «Berner Zeitung», NZZ und «Blick». Tägliches Ritual?
Ja, das gehört zu meiner täglichen Lektüre, zudem habe ich auch noch die WoZ und die «Zeit» abonniert. Gedruckte Zeitungen sind für mich nach wie vor ein sinnlicher Genuss, die Printmedien werden nie verschwinden, sie sind auch didaktisch besser. Ein Tablet ist schlecht für die Augen, und ich mag nicht auf einer solchen Bakterienschwarte herumdrücken. Das ist nicht meine Welt. Ich vertraue nicht auf Internet-News.
Lesen Sie die Zeitungen von A bis Z?
Nein, den Sportteil nicht, den Kaderbund nicht und Lifestyle auch nicht. Ich lese vor allem den internationalen politischen Teil.
Der ist aber im «Blick» eher dünn.
Ja, aber der «Blick» hat immerhin Haltung, er ist klar gegen Antisemitismus und Nazis, und oft hat er auch unterhaltsame Geschichten. Meine liebste ist immer noch jene von diesem Bagger-Küde, der vor 20 Jahren in Olten ein Haus zusammenbaggerte, weil ihn seine Frau verlassen hatte.
Endo Anaconda, bürgerlich Andreas «Ändu» Flückiger, wurde am 6. September 1955 in Burgdorf geboren. Der Sohn einer Österreicherin und eines Schweizer Polizisten wuchs zuerst in Biel auf, nach dem Tod des Vaters dann in Klagenfurt (A). Seine Sommerferien verbrachte er bei den Grosseltern im Emmental.
Nach einer Lehre als Siebdrucker in Wien kam er Anfang 1980er-Jahre zurück in die Schweiz und arbeitete zwei Jahre lang im Shoppyland Schönbühl als Hubstaplerfahrer. 1985 war er Sänger der Band Die Alpinisten, 1989 gündete er das Duo Stiller Has. Die Band gibt es seither in verschiedener Besetzung.
Endo Anaconda hat drei Kinder – Mascha (10), Max (18), Nina (26) – von drei Frauen. Er lebt abwechslungsweise in Trub BE und mit seiner Partnerin in Erlinsbach AG.
Dass Sie gerne Zeitungen lesen, hören wir Journalisten gerne.
Ja, aber vielleicht lese ich zu viel Zeitungen. Sie bringen einen oft auf schlechte Gedanken.
Und das macht Sie pessimistisch?
Ach, sehen Sie, ich würde doch auch lieber Katzenbildchen anschauen und von den schönen Gletschern jödele. Aber die Gletscher sind gar nicht mehr da. Das ist kein Pessimismus, das ist nur eine Feststellung.
Ohne Resignation?
Bevor ich gezeugt wurde, hatte ich bereits um Gnade gefleht, aber meine Mutter hat mich errettet und zur Welt gebracht. Später, nach vier Jahren in einem katholischen Erziehungsinternat in Klagenfurt habe ich erstmals daran gezweifelt, ob das eine gute Idee war, mich zu retten. Aber mittlerweile bin ich einfach da und mache das, was ich kann, und ich mache es gerne.
Wie jetzt die neue Konzerttournee?
Ja, ich mache in wechselnder Besetzung seit 35 Jahren Konzerte und CDs. Wenn ich das nicht hätte, würde ich ziemlich schnell depressiv. Ich bin wie ein Zirkuspferd. Ich merke zwar das Alter, bin zwischenhinein müder als sonst, vergesse auch das eine und andere, aber die Bühne ist mein Ding. Und sie ist für mich auch ein wichtiger Ausgleich.
Ausgleich zu was?
Ich bin im Grunde ein Mensch, der sehr scheu ist, vielleicht bin ich auch soziophob. Es ist schwierig, mit mir irgendwo hinzugehen, wo ich Kontakte knüpfen muss. Die Bühne ist für mich wie ein Tonikum. In dem Moment, wo ich oben stehe, habe ich keine anderen Sorgen.
Auf Ihrer jetzt beginnenden Tournee werden Sie nur von Roman Wyss am Klavier begleitet. Weshalb?
Das Duo ist für mich altersgerecht, ich muss dann auch nicht mehr so schreien. Und Roman Wyss kann alles. Wir werden alte und neue Nummern spielen, auch Nummern, die noch am Entstehen sind. Das kann man mit einer Band nicht, eine Band ist eine Maschine.
Die Band gibt es also nicht mehr?
Doch, die gebe ich nicht einfach so auf. Eine CD ist schon noch geplant, und 2020 werde ich auch wieder mit der Band unterwegs sein. Vermutlich wird das dann das Finale von Stiller Has sein.
Warum?
2020 werde ich 65, AHV-Rentner. Dann werde ich wahrscheinlich Einzelkünstler. Man kann nicht mehr damit rechnen, dass ich weiter CDs mache, die ich live 100-mal spielen muss.
Aber Sie brauchen doch die Bühne, haben Sie gesagt.
Ich schreibe auch Gedichte, Kolumnen und andere Texte. Damit erreicht man auch ein Publikum. Und eigentlich hasse ich ja Musik. (lacht schallend)
Sie könnten für unsere Zeitung Kolumnen schreiben.
Würde ich gerne machen, fragt doch einfach nach in zwei Jahren.
Was haben Sie sich sonst noch für das Rentnerdasein vorgenommen?
Ich reise gerne, mal richtig ausgiebig nach Italien wäre ein Wunsch, um in Perugia richtig italienisch zu lernen statt nur so zu tun als ob. Dann lese ich leidenschaftlich, ich kann entschwinden in der Literatur. Und ich habe eine grosse Sammlung von Western-Filmen. Vor allem jene von Sergio Leone mag ich. Ich nerve meine Freunde immer mal, wenn ich sage, dass wir jetzt wieder «The Good, The Bad & The Ugly» schauen.
Was fasziniert Sie an Western?
Mir gefällt die Vorstellung, dass mittags um 12 Uhr in einem fairen Revolverkampf mit zwei Idioten ein Problem aus der Welt geschafft werden kann. Das geht real natürlich nicht, ich weiss, aber es ist so eine Sehnsucht von mir. Eigentlich wäre ich gerne der Zorro oder Robin Hood oder der gute grosse Blonde.
Im Western siegen immer die Guten.
Nein, das sind doch im Endeffekt alles Drecksäcke, aber wenigstens beschränkt sich die Gewalt auf diesen Personenkreis, es geht nicht weiter. Die Realität ist anders, leider.
Ostschweizer Konzertdaten: 24.11 Lichtensteig, 8.2.19 Altstätten, 22./23.2.19 Häggenschwil www.stillerhas.ch