Einsiedler unter Menschen

Immer wieder suchen Menschen bewusst die Einsamkeit oder das Alleinsein, um in Einfachheit zu leben. Religion, Zivilisationsmüdigkeit oder psychologische Bedingtheiten, oft vermischt, sind mögliche Motive.

Drucken
Karl Binde, der Einsiedler von Hinterlochen. (Bild: Peter Eggenberger)

Karl Binde, der Einsiedler von Hinterlochen. (Bild: Peter Eggenberger)

Immer wieder suchen Menschen bewusst die Einsamkeit oder das Alleinsein, um in Einfachheit zu leben. Religion, Zivilisationsmüdigkeit oder psychologische Bedingtheiten, oft vermischt, sind mögliche Motive. Warum genau Karl Binde als Einsiedler unter Menschen in Hinterlochen bei Thal lebte, ist nicht bekannt. Hinterlassen hat er Erinnerungen und ein kleines Büchlein.

Gedanken in vier Zeilen

Heute präsentiert sich der Weiler Hinterlochen, in der Talsenke zwischen Wolfhalden und Thal gelegen, recht herausgeputzt. Das war anders, als Karl Binde sich dort in der Mitte der 1970er-Jahre in einem verlotterten Häuschen niederlässt, um als Einsiedler zu leben. Zu seiner Lebenszeit ist das kleine Haus, heute renoviert und zum Teil verändert, von Brennnesseln umwachsen und nur über einen kleinen Steg erreichbar. Hier haust der 1891 geborene Binde ohne Strom und anderen Komfort bis zu seinem Tode im Jahr 1987. Er ernährt sich von Rohkost, mit Vorliebe von rohen Zwiebeln und Knoblauch.

Jede Nacht sitzt er da, nachdenkend, und fasst seine Erkenntnisse in einen Vierzeiler. 1984 gibt der Thaler Buchdrucker Hans Vetter unter dem Titel «Das Wort vom Kreuz» ein Bändchen mit 365 Vierzeilern Bindes heraus, der als Verfassername das Pseudonym Silvanus wählt. In seinen Gedanken erweist sich Binde als Dualist, der an das Gegensätzliche allen Seins glaubt. Keine Lüge sei ohne Wahrheit, kein Sterben ohne Weile, schreibt er, und als Leitspruch setzt er diese Einsicht ins Büchlein: «Am Kreuz ist Dichterwahnsinns Tod / Lebt Wahnsinns Sinn, Gotts Idiot / Als Wortes Licht Nichtwissens, Schlafes Nacht / In Weibes Seele, Traumes Nacht.»

Ganz abgeschieden lebt Binde nicht. Rund um sein Häuschen stehen weitere bewohnte Häuser. Er lebt so als Einsiedler unter Menschen, spricht mit ihnen, geht bis ins hohe Alter mit dem Rucksack ins Dorf, um einzukaufen, und schaut regelmässig beim Buchdrucker Vetter vorbei. Dieser bezeichnet Binde als einen besonderen, aber nicht immer leicht zu verstehenden Menschen. Im hohen Alter, als seine Kräfte nachlassen, nimmt er auch Hilfe an. Eine Nachbarin bringt ihm regelmässig Suppe.

Der glückliche Mensch

An die Öffentlichkeit drängt es Binde nicht. Dies erfährt auch der junge Thaler Journalist Heinz Müller, der ihn drei Jahre vor dem Tod aufsucht und auch ins Haus eingelassen wird. Müller berichtet von einem wilden Durcheinander von Kleidern und Büchern, auch davon, dass der alte Mann seine Fragen im Bett liegend beantwortete. Er lässt keine Fotos zu und besteht auf einem schon fast dadaistischen Pseudonym – Adalbert Blum. Mit Lebensweisheiten hält er jedoch nicht zurück. Der glückliche Mensch, so Binde, lebe das natürliche Leben ohne Hast und Stress, er sei der Natur verbunden und kenne so im Grunde keine Zeit, die sowieso nur eine Erfindung des Menschen sei. Im Gespräch mit dem Journalisten verrät Binde, dass er mehrere alte Sprachen, so Hebräisch und Lateinisch, beherrscht, er zitiert Goe- the und Novalis und flicht englische Zitate in seine Ausführungen ein. Dass er mehrere Sprachen gesprochen habe, bestätigt auch Heinz Vetter, der zudem einige Details aus Bindes Leben kennt.

Was bleibt, ist wenig

Karl Bindes Vater Fritz, geboren 1867 in Thüringen und gestorben 1921 in Riehen BL, war zuerst Sozialist, dann Anarchist und Theater- und Kunstkritiker, bis ihn eine Vision Christi und Begegnungen mit verschiedenen Christen zum Prediger werden lassen. 1905 wurde er aktives Mitglied der Deutschen Zeltmission und sah fortan sein Lebensziel darin, in den Städten zu evangelisieren.

In diesem Milieu wächst Karl Binde auf und soll in Basel alte Sprachen studiert haben. Im Ersten Weltkrieg ist er zu schwach für den Militärdienst, im Zweiten leistet er Hilfsdienst. Danach beginnt sein Rückzug. Er kommt zuerst zu seiner Schwester, Ehefrau des Pfarrers, nach Thal und lebt in einem kleinen Haus unweit des Dorfes, bevor er nach Hinterlochen zieht. Einige Quellen behaupten, Binde sei gar nicht so arm gewesen, hätte sogar mehrere Häuser besessen. Belegt ist dies nicht, Auskünfte über Karl Bindes Leben sind spärlich.

Was bleibt, sind einige Erinnerungen, wenige Fotos und ein kleines Büchlein, das mit dieser Bitte an die Leser endet: «Fragt erst, wenn ich nirgends mehr gefunden, / Von Lebens Licht werd' sein entschwunden, / Nach dem, was nie war und nie wird sein, / Nach meinem Namen, Wahnsinns Schein.»

Richard Butz