Eis Skeleton und St. Moritz sind untrennbar; denn diese temporeichen Schlittenrennen haben ihren sportlichen Ursprung im Engadin – die ersten Skeletons haben aber die Indianer gebaut. Heini Hofmann
Biedere Kutschenfahrten waren in den frühen 1880er-Jahren für die erwachende Wintersport-Fangemeinde nicht mehr der letzte Kick. Skilaufen steckte noch in Kinderschuhen, das erste Skirennen sollte erst 1893 stattfinden. Also mussten neue Attraktionen her: Die Hoteliers präparierten Eisbahnen, die Schotten brachten ihre Curling-Steine, und die Briten flitzten mit ihren Schlitten über die Dorfstrassen. Die Idee des Skeletonsports war geboren.
Nun ging es schnell: Im Winter 1884/85 wurde erstmals der Cresta Run gebaut und war fortan, neben dem benachbarten Olympia-Bob-Run, die «zweitgrösste Eisskulptur der Welt». Im gleichen Winter hob man auch den entsprechenden Sportclub aus der Taufe, der jedoch nicht den Begriff Skeleton im Namen führt, sondern sich extravagant St. Moritz Tobogganing Club (SMTC) nennt.
Cresta Riding war danach während Jahrzehnten nicht nur die spektakulärste, sondern auch die schnellste Art menschlicher Fortbewegung. Traditionell wird der Run bei jedem Winterbeginn mit den Ingredienzien Schnee, Wasser und Kälte neu gebaut. Da diese Sportart immer nur auf diesem einen Run ausgetragen wurde, kamen die Schlüsselrennen einer Art Weltmeisterschaft gleich. 1928 und 1948 kam Cresta-Skeleton sogar erstmals zu Olympia-Ehren. Ende Januar steht erneut die Weltmeisterschaft in Skeleton und Bob an.
Der Ursprung des Skeletonschlittens führt zu den Indianern Nordamerikas. Diese bauten für ihre Warentransporte in schneereichen Wintern aus einem Skelett (engl. Skeleton) von Birkenästen, verbunden durch grosse Rindenstücke, einen Transportschlitten, der am vorderen Ende nach oben gebogen war und den sie Toboggan nannten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden solche Schlitten im Norden Amerikas, in Kanada und Russland zu Freizeit-Sportgeräten umfunktioniert.
Anfänglich schlittelte man dort auf den Strassen, wie beispielsweise auf der grossen Avenue in St. Petersburg oder durch eine an einem Hang präparierte, schnurgerade Schlittelrinne. Auch in St. Moritz hatte der Schlittelsport zuerst auf der Dorfstrasse hinunter nach St. Moritz Bad oder Celerina begonnen. Das war aber nach der Aufhebung des Automobilverbots in Graubünden 1926 nicht mehr möglich. Es entstanden auch Schneebahnen. Und weil sportliche Aktivitäten zu Wettbewerb animieren, entwickelte sich aus dem Freizeitvergnügen bald einmal ein ehrgeiziger Sport. Das Freizeitgerät indianischen Ursprungs mutierte zum Rennschlitten. Doch dafür benötigte man einen Eiskanal.
Ganze neun Wochen dauerte die Bauzeit des ersten Cresta Run, der Mitte Januar 1885 fertiggestellt wurde. Das allererste Rennen war ein Wettbewerb gegen Tobogganing-Freunde aus Davos. Anfänglich gehörten fast ausschliesslich Engländer und Amerikaner dem St. Moritz Tobogganing Club an. In den Nachkriegsjahren begann er sich zu öffnen, und heute stammt ein grosser Teil der Mitglieder aus Kontinentaleuropa und der Schweiz. Etwas jedoch hat sich nicht verändert: die Klubsprache ist nach wie vor Englisch. Nur gerade die Lautsprecherdurchsage für die Mittagspause erfolgt auf Italienisch: «Terminato». Dies deshalb, weil das Cresta-Run-Bahnpersonal – alles Spezialisten aus dem Veltlin – dann sofort mit Ausbesserungsarbeiten beginnen muss.
Bis 1926 waren zwar Damen zugelassen, doch dann wurde Cresta-Skeleton reine Männersache, wie an der Eingangstüre unverkennbar: «Riders only, Ladies not admitted». Doch eine Ausnahme gibt's: Der Ladies Day am letzten Tag der Saison Anfang März.
Der Skeletonschlitten, auf dem Cresta Run Toboggan genannt, ist zwar indianischer Abstammung, aber heute ein Hightech-Sportgerät. Er besteht aus einem massiven Stahlgerippe mit zwei Kufen, einer seitlich hochgezogenen starren Wanne mit Haltebügel sowie vorderen und hinteren seitlichen Prallbügeln. Jedoch: Er hat weder Bremsen noch eine Lenkung. Der Antrieb ist die Schubkraft des Fahrers.
Während man anfangs noch in sitzender Position fuhr, wagte 1887 der erste Athlet die Fahrt liegend und mit dem Kopf voran. Gestartet wird im Stehen, dann nach kurzem Anlauf auf den Schlitten gehechtet – und schon geht's bäuchlings dem Ziel entgegen. Der schnellste Weg von St. Moritz nach Celerina führt über den Cresta Run: Distanz 1212 m, Höhenunterschied 157 m, Durchschnittsgeschwindigkeit 90 km/h, Spitzengeschwindigkeit bis 135 km/h, Fahrzeit unter 55 Sekunden. Nach dem Zielschuss muss bei über 130 Kilometern pro Stunde innerhalb von 200 Metern nach der Ziellinie gebremst werden, und schliesslich bringt eine Schaumstoffmatte den Skeleton zum Stehen.
Die Strecke weist zwei Startpunkte auf: Top Hut (volle Bahnlänge) und Junction (um einen Drittel verkürzt). Anfänger dürfen nur hier unten starten und müssen sich für Top zuerst qualifizieren. Dass zwei Drittel aller Neulinge dies nicht schaffen, belegt, dass der Cresta Run nichts für Warmduscher ist. Die berüchtigste aller Kurven heisst Shuttlecock. Zu schnelle Gefährte werden darin von der Fliehkraft gnadenlos aus der Bahn geworfen. Rider, die hier unsanft landen, werden zum Trost in den Shuttlecock Club aufgenommen und erhalten eine blaue Krawatte mit einem Federball. Es geht das Gerücht, dass praktisch alle Members eine solche Halsbinde besitzen...
Skeleton-WM in St. Moritz vom 21. Januar bis 3. Februar