Letzter Kuss vorm Untergehen: Mit Postkarten protestieren italienische Künstler gegen die Migrationspolitik

Eine Gruppe italienischer Kulturschaffender hat eine aufrüttelnde Postkartenaktion gegen das Vergessen lanciert. Mit teils verstörenden Sujets wird auf das Sterben im Mittelmeer aufmerksam gemacht.

Martin Preisser
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Barconi – Urlaubsgrüsse von den Schlepperkähnen: Postkarte von Matteo Franco.
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Un bacione – dicker Kuss von der sonnigen Insel Panarea: Postkarte von Gaia Zuccaro.
Sommer am Mittelmeer – das Schiffchenversenken-Spiel: Postkarte von Cinzia Bongino.
Sizilien - die Sonne versinkt im Mittelmeerfriedhof: Postkarte von Luca Capretti.

Barconi – Urlaubsgrüsse von den Schlepperkähnen: Postkarte von Matteo Franco.

Die Globalisierung sei nicht de luxe zu haben, sagte der deutsche Philosoph Richard David Precht unlängst in einem Zeitungsinterview. Er konstatierte zudem im Fernsehen, dass im Moment die Medienbilder zum Flüchtlingsdrama, das schon in der Sahara und in Libyen und nicht erst auf den Schlauchbooten im Mittelmeer beginne, zunehmend verschwänden. Europa reagiert passiv, schirmt sich ab, verdrängt, will vergessen.

Gegen dieses Vergessen und Verdrängen haben jetzt junge Italienerinnen und Italiener, darunter viele Designer, Illustratoren und Comiczeichner eine beeindruckende Aktion gestartet. «Nur auf Postkarten», «Solo in Cartolina» heisst sie. Die Internetaktion ist ein starker Protest gegen die aktuelle Migrationspolitik des italienischen Innenministers Matteo Salvini (von der Lega Nord). Auf dessen Satz, die Flüchtlinge würden Italien nur auf Postkarten sehen, nimmt die Aktion Bezug.

Kitschpostkarten, mit Küsschen, Regenbogenfarben, Sonne, Strand und Mittelmeerromantik haben die Initianten der Kartenaktion teils recht zynisch, teils nachdenklich, aber immer betroffen machend mit Sujets des Flüchtlingsdramas verfremdet. Traditionelle Ferienpostkarten werden zu Symbolen einer Anklage, machen die in ganz Europa im Moment fehlende Strategie in der Flüchtlingspolitik deutlich. Die Postkarten geben den Tausenden von Flüchtenden, den vom Ertrinken Bedrohten eine Stimme.

Auf Karten der «Gutmenschen» nicht angewiesen

10 der rund 300 eingegangenen Postkartenideen werden jeweils tausendmal gedruckt. Innenminister Salvini wird in den nächsten Tagen ein Paket mit 10000 Karten erhalten. «Ich bekomme viel öfter ganz andere Postkarten von Italienerinnen und Italienern», sagt der Rechtspopulist. Auf die Karten der «Gutmenschen» sei er nicht angewiesen.

1408 Menschen sind (Stichdatum 11. Juli) dieses Jahr bereits im Mittelmeer ertrunken. 3139 waren es 2017, 5096 überlebten 2016 die Passage übers Meer nicht.

Gegen das Vergessen und Verdrängen, gegen die Kriminalisierung von Nichtregierungsorganisationen wie beispielsweise «Ärzte ohne Grenzen», gegen die Politik Matteo Salvinis, der alle Häfen für Flüchtlinge geschlossen hat, engagiert sich auch der italienische Autor und Journalist Roberto Saviano. Seit seinem Buch «Gomorrha» (2006), in dem er nicht nur die Verbrechen der neapolitanischen Camorra beschrieben, sondern auch konkret die Namen der Verbrecher genannt hat, steht er auf der Todesliste der Mafia und lebt unter ständigem Polizeischutz. Innenminister Salvini hat angedroht, ihm diesen Schutz zu entziehen, was ein sicheres Todesurteil bedeuten würde.

«Es ist Pflicht, Position zu beziehen»

In seinem Aufruf mit dem verzweifelten Appell «Warum versteckt ihr euch alle?», der auch durch einige deutschsprachige Medien ging, schreibt Saviano:

«Das Schweigen ist ein Luxus, den wir uns nicht mehr leisten können.»

Er bittet um Unterstützung durch Kulturschaffende. «In diesen Zeiten muss jeder, der die Möglichkeit hat, zu einem Publikum zu sprechen, es als seine Pflicht verstehen, Position zu beziehen. Auch wenn das bedeutet, einen Teil der Leute zu verlieren, die dir im Netz folgen, die deine Bücher kaufen oder deine Konzerte besuchen.»

Saviano kritisiert seine Regierung, und damit indirekt alle rechtspopulistischen Stimmen in Europa dafür, dass diese die Angriffe auf Migranten und Nichtregierungsorganisationen dafür benutzten, um von anderen Problemen abzulenken. In der letzten Ausgabe des italienischen Wochenmagazins «L’Espresso» geisselt er die Vereinfachung von komplexen Zusammenhängen. Und schreibt: «Verbrechen verwandeln sich in Prahlereien.»

Die Postkartenaktion «Solo in Cartolina» setzt in dieser Debatte jetzt ein Zeichen, rüttelt durch Bilder auf und bewirkt zumindest das Eine:

Einfach gedankenlos kann nach dem Betrachten dieser Postkarten im Moment niemand mehr das Mittelmeer als blosse Sommeridylle geniessen, Italiener nicht, Touristen nicht.

Die Aktion symbolisiert auch die kritische, geschätzte Eindrittel-Minderheit in Italien, die das Flüchtlingsdrama nicht einfach durch Wegschauen verdrängen will.