Der Sommer hat einen schweren Stand. Mal ist er zu verregnet, zu kalt, zu kurz. Und wenn er dann loslegt und zeigt, was er draufhat, ist es auch wieder nicht recht.
Der Sommer ist derzeit beängstigend schön. Tag für Tag werden Temperaturrekorde gebrochen. Bäche versiegen, Fische verenden, Nutztieren droht wegen Futtermangel Notschlachtung. Die Schweiz schwitzt, die Schweiz stöhnt, die Schweiz ächzt. Auf wochenlange extreme Hitze folgt ein nationalfeiertägliches Unwetter. Doch die Abkühlung währt nur kurz.
Und während man entspannt auf einem aufblasbaren Gummitier auf dem See dümpelt, drängen sich dunkle Gedanken auf: Was für eine Welt hinterlassen wir unseren Kindern, Enkeln, Urenkeln? Forscher prognostizieren, dass Hitzesommer wie dieser in Zukunft häufiger auftreten. Der Klimawandel zeigt seine Unerbittlichkeit, nicht mehr nur auf vom Untergang bedrohten Südseeinseln, sondern auch hier.
Und trotzdem, es ist paradox, trotzdem ist so ein Jahrhundertsommer herrlich. Als Bürogummi, der den Arbeitsalltag in klimatisierten Räumen versitzt, kann man diesen Sommer einfach nur geniessen. Mit der Hitze schwappt die Mediterranisierung über die Alpen.
Ist Rudi Carrell schuld, dass alle immer über den Sommer schimpfen?
Das Bünzlitum scheint verschwunden. Stattdessen hat eine lockere Freiheit von uns Besitz ergriffen. Keine Beiz, kein Café, das nicht Stühle rausstellt, auch wenn nur auf dem Trottoir Platz ist. Die Leichtigkeit des Seins überrollt die Schweizer Kleinstädte. Alle sitzen draussen, abends, wenn die sanfte Kühle hereinweht über die gestaute Asphalthitze.
Die sonst so provinziellen Ostschweizer, arroganten Zürcher, katholischen Zentralschweizer, sie wirken alle gelassen. Man hockt beisammen, schwatzt, plaudert. Laisser-faire statt hektischer Betriebsamkeit. Gemütliche Grosszügigkeit statt penibler Korrektheit.
Der Grillabend dauert länger, obwohl es Montag ist – kein Nachbar beschwert sich über das Stimmengewirr im Garten. Und wenn am nächsten Abend alles ringsherum schläft, man selber auf der Terrasse sitzt und einfach nicht aufhören kann, mit nackten Füssen der in den Steinplatten gespeicherten Hitze des Tages nachzuspüren, dann kommt zufällig die nette Dame aus dem vierten Stock vorbei. Keine Hektik, man trinkt noch ein Gläschen Rosé zusammen, bevor jeder spät, aber entspannt und glücklich ins Bett stolpert.
Es ist eh völlig sinnlos, sich früh schlafen zu legen – in den Tropennächten wälzt man sich vor Mitternacht nur schlaflos schwitzend durch die Laken.
Und manchmal staunt man einfach schweigend in die blaue Stunde, schaut in den Himmel, lauscht dem Rauschen der Bäume (oder eben des Verkehrs), bis es dunkelt. Wartet auf einen Stern, sinniert, das Hirn noch hitzezermatscht, über das Leben, den Tag, oder einfach darüber, woher auf einmal diese Lust auf Panaché, Aperol Spritz und Hugo kommt. Im Winter trinkt das keiner.
Es ist heiss, es ist herrlich. Die Badis: kommen mit dem Chloren kaum noch nach. Die Bergbahnen: befördern rekordverdächtige Wanderermassen. Die Seeufer und Promenaden: voll wie in Rimini. Die Festspielbühnen: steigende Zuschauerzahlen. Die Open-Air-Kinos: Jede Vorstellung kann stattfinden. Ohne wärmende Fleece-Decken, dafür mit klimpernden Eiswürfeln im Glas.
Alles ist Sommer und Hitze. Das kollektive Verdrängen, dass auch dieser Sommer einmal zu Ende sein wird, ist grossartig.
Er scheint auf eine magische Weise endlos, es gibt kein Morgen, und wenn, dann wartet auch das mit blauem Himmel, Höchsttemperaturen und glühender Sonne auf.
Bloss keinen Gedanken daran verschwenden, dass nur allzu bald der Nebel das Leben tagelang verschluckt, die Wolken sich auf uns im Dauerbrechdurchfall übergeben und man monatelang nicht aus dem Wollpulli steigt. Noch kann man in der Kantine Glace schlecken, wie sonst Kinder in der Badi. Und die Kollegen holen sich auch eines.
Im Sommer macht das geschäftige Leben Pause. Und in einem mediterranen Hitzesommer erst recht. Das Leben verlangsamt sich noch mehr, rein temperaturbedingt. Mal eben zur Bushaltestelle sprinten? Viel zu heiss. Rasch zum nächsten Supermarkt hetzen? Viel zu schweisstreibend. Nur langsam, langsam fortbewegen, den Schatten suchend, am Brunnen die Hände und Arme kühlen.
Als Kind bedeutete der Sommer: die grosse Pause zwischen zwei Schuljahren. Die Lücke, der Puffer, bevor eine grosse Veränderung eintreten würde. Neue Lehrer, neuer Stundenplan, eine neu zusammengesetzte Klasse, und immer mit dem Vorsatz verbunden, im neuen Schuljahr auch ein neuer Schüler zu werden. Besser zu planen, zu lernen, mehr Acht zu geben auf die neuen Hefte und Bücher, nicht mehr so oft zu spät zu kommen.
Ein bisschen von dieser Magie, die die Sommerferien damals ausstrahlten, hat sich irgendwo im Kleinhirn versteckt und alle Erwachsenwerden-Versuche überdauert. Der Sommer ist immer noch die Pause, die das Jahr in ein Davor und Danach einteilt.
Auch wer nicht die grossen Ferien im Juli oder August verbringt, sondern vielleicht im April oder Oktober, sogar der spürt etwas von dieser Pausenmentalität. Die Innenstädte: leer. Plötzlich findet man einen Parkplatz. Berufliche Termine: pausieren. Wichtige Meetings gibt es erst wieder, wenn alle aus den Ferien zurück sind.
Und während sich die anderen in die Abflughalle quetschen, am Gotthard im Stau quälen, auf verspätete Züge warten, geniesst man den Sommer daheim. Arbeiten – gut, eine Siesta wäre schön – und dann ab in den täglichen Feierabendurlaub. Anstatt an der Adria am überfüllten Strand zu brutzeln, hüpft man am Abend in die nächste Badi.
Das Abendessen kochen? An Rösti und Fondue denkt jetzt keiner. Irgendjemand in der Nachbarschaft hat den Grill angeworfen, da lässt sich auch noch eine Wurst dazulegen. Die Wohnung aufräumen? Wozu, das Wohnzimmer ist ja jetzt draussen. Die Steuererklärung endlich ausfüllen? Kann warten bis zum nächsten Regentag. Nie lassen sich lästige Pflichten schöner vor sich herschieben als jetzt.
Lieber noch einmal die Farben und Sommerdüfte aufsaugen, wie die Feldmaus Frederick im gleichnamigen Bilderbuch. Sich einen Sommervorrat anlegen für den Winter. Denn der nächste kommt bestimmt.