Eltern sollen ihre Kinder nicht auf den Mund küssen. Das sagt eine amerikanische Psychologin und löst damit eine kontroverse Diskussion aus.
Staunend und etwas verwirrt stand ich meistens da, wenn meine beste Freundin ihre Mutter auf den Mund küsste, oder ihr Mami ihr zum Abschied einen Schmatzer auf die Lippen drückte. Bei uns zu Hause gab es das nicht. Wir wurden gedrückt, geherzt, und vor allem mit Worten «liebkost». Aber Küsse auf den Mund habe ich mir für die Jungs in der Schule aufgespart. Die waren vielleicht kindlich, mal zu kurz, mal zu nass – aber sie alle haben dieses Kribbeln ausgelöst. Dieses «Huch-das-gefällt-mir-Kribbeln».
Einmal dann wollte ich es – aufgrund der Familienküsserei bei meiner Freundin daheim – auch probieren. Also habe ich meine Lippen sehr unverhofft und etwas forsch auf die meiner Mutter gedrückt. Sie erschrak und wich zurück. In unserem Haus gab es das nicht.
20 Jahre später küsst meine Freundin – logischerweise – auch ihre drei Mädchen (drei, fünf und sieben Jahre) auf den Mund. Und: Auch sie und ihre Mutter tun es noch immer. Heute irritiert mich das nicht mehr. Trotzdem merke ich, dass ich es bei den kleinen Mädchen «normaler» finde als zwischen meiner 30-jährigen Freundin und ihrer 60-jährigen Mutter. Gibt es ein Ablaufdatum für Erwachsene-Kind-Küsse?
Es scheint, wie bei vielen erzieherischen Fragen, dass wir das von zu Hause Bekannte, das Gelernte und Anerzogene als normal empfinden. Ähnlich wie bei der Entscheidung, ob man den Salat vor dem Hauptgang oder dazu isst oder ob man brav am Tisch sitzenbleiben muss, bis alle fertig gegessen haben. Familienabhängig eben.
Das sieht eine amerikanische Ärztin anders. Für sie ist klar: Eltern sollen ihre Kinder nicht auf den Mund küssen. Die Kinderpsychologin Charlotte Reznick, die mit dieser radikalen Aussage kürzlich in der britischen Zeitung «Mirror» zitiert wurde, hat eine hitzige Debatte ausgelöst. Sie rät explizit von Lippenküssen ab, weil diese etwas Sexuelles hätten und für Kinder verwirrend wären. Kinder in einem gewissen Alter könnten so einen Kuss als erregend empfinden. Im Netz und in zahlreichen Medien wird das Thema von der Elternschaft und auch von Menschen ohne Kinder gerade heftig diskutiert.
Der Grossteil der Elternschaft reagiert mit Entrüstung. Die wütenden Eltern beschimpfen die Kritikerin und verteidigen das Recht, die eigenen Kinder küssen zu dürfen – einige posten zum Trotz sogar «kissing selfies». Damit folgen sie dem Ruf von Mama und Bloggerin Louise Rodgers, Bilder ins Netz zu stellen, auf denen sie ihre Kids auf die Lippen küssen. Eine Kommentatorin auf einem Nachrichten-Portal fragt zynisch: Und dass ich meinem Kind die Windeln wechsle wird auch bald als sexuell oder pädophil ausgelegt?
«Entscheidend für die Frage, ob man Kinder auf den Mund küssen soll oder nicht, ist das Empfinden der Kinder und Jugendlichen», sagt Jean-Luc Guyer, Psychologie-Professor an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. In unserem Kulturkreis ist es eher unüblich, dass Eltern ihre Kinder auf den Mund küssen. Doch ein Kuss kann je nach Ort und Situation unterschiedliche Bedeutungen haben. Es gibt sogar eine wissenschaftliche Disziplin für den Kuss, die Philematologie. Meistens wird ein Kuss aber als freundschaftliche Geste, zärtliche Zuneigung oder sexuelle Handlung angesehen.
Ein Kuss auf die Lippen ist intim. Er stellt für viele Menschen die Verbindung zwischen der (rein körperlichen) Sexualität und der partnerschaftlichen Liebe dar, weshalb er auch in weiten Kreisen der Prostitution als unerwünscht gilt. Man denke an die Szene aus dem Film «Pretty Woman», in der Julia Roberts Richard Gere sagt, sie mache alles ausser auf den Mund küssen.
Julia Roberts konnte ihren Standpunkt zum Thema Küssen deutlich machen und sich gegebenenfalls wehren. In der Eltern-Kind-Beziehung ist das schwieriger. «In der Regel gehen die Begrüssungs- und Abschiedsküsse von den Erwachsenen aus und Kinder und Jugendliche werden kaum dazu befragt, ob sie dies wollen oder nicht, erklärt Psychologe Guyer. Kinder und insbesondere Jugendliche würden hingegen oft signalisieren, dass sie das «Abküssen» nicht schätzen oder klar ablehnen respektive abstossend finden. Aber es gibt auch Eltern, die ihre Kinder nicht auf den Mund küssen, weil sie sich selber dabei nicht wohlfühlen.
Experten und auch Befürworter halten dem entgegen, dass Kinder, sobald sie sich unwohl dabei fühlen, von selbst damit aufhören. Dies tun sie ja auch, wenn sie plötzlich keine Gute-Nacht-Geschichte mehr hören oder kein Händchen mehr mit Papi halten wollen.
Guyer rät Eltern, die selber mit Küssen auf den Mund aufgewachsen sind und dies als ganz normal betrachten, das Thema anzusprechen, wenn die Kinder im Jugendlichenalter sind: «Die Gefahr der Grenzüberschreitung zwischen den Eltern und Kindern oder Jugendlichen ist nicht ganz abwegig, da das Küssen auf den Mund etwas doch sehr Intimes ist und in der Regel in Liebesbeziehungen gepflegt wird», findet der Experte.
Heikel ist es laut Guyer insbesondere in Beziehungen zwischen Tochter und Vater sowie zwischen Mutter und Sohn bei heranwachsenden Jugendlichen. Wichtig ist: Wann die Phase der Eltern-Kind-Küsse abgelaufen ist, müssen die Kinder bestimmen.
Bei meiner Freundin etwa scheint die Ära nie enden zu wollen.