Web 2.0
Wikipedias heimliche Helden im Hintergrund

Wikipedia ist die erste Anlaufstelle bei Fragen. Damit das so bleibt, sind etlich Helfer freiwillig im Einsatz. Alleine in der Schweiz sind es bis zu 2000 an der Zahl. Für viele «Wikipedianer» ist die Mitarbeit am Online-Lexikon eine Leidenschaft.

Martina Odermatt
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Sie recherchieren im Netz und wälzen Bücher, um Wikipedia auf dem Laufenden zu halten: Wikipedianer.Chris Iseli

Sie recherchieren im Netz und wälzen Bücher, um Wikipedia auf dem Laufenden zu halten: Wikipedianer.Chris Iseli

Chris Iseli

Sie ist unsere Retterin in der Not. Wann immer wir Fragen haben, weiss sie Rat, und sie hilft uns, die Welt besser zu verstehen: die Online-Enzyklopädie Wikipedia. Doch wer steckt hinter diesem allwissenden Lexikon?

Alles begann für Daniel Graf* mit der goldenen Bremm. Hinter diesem Begriff versteckt sich nicht etwa ein Tier oder ein spezielles Schmuckstück, sondern der Grenzübergang zwischen dem Saarland und Frankreich. Graf durchstöberte das Netz für mehr Informationen zu diesem Begriff und landete auf Wikipedia. Allerdings war der Artikel nicht ausführlich. Er recherchierte also weiter und dachte sich: Wenn ich schon Informationen sammle, kann ich diese auch gleich auf Wikipedia stellen. Graf registrierte sich und postete seine Recherchen zum ersten Mal. Das brachte den Stein ins Rollen. Nach seinem ersten Eintrag packte ihn das Verlangen und er wollte immer mehr wissen. Graf las Artikel um Artikel, fing an, sie zu editieren und dann auch eigene Beiträge zu schreiben.

Recherche auch in Bibliotheken

Das war vor fast 11 Jahren. Seit damals hat Graf um die 550 Artikel geschrieben. Ein bis zwei Stunden sitzt er täglich vor dem Computer oder in der Bibliothek, um zu recherchieren. Früher tat er das nur online, heute pilgert er auch in Bibliotheken und Archive, wälzt Bücher und kämpft sich durch Register. In der Zentralbibliothek Zürich ist er Stammgast.

Ein anderer «Wissensgenerierer» für Wikipedia ist der 47-Jährige mit dem Pseudonym «Badener». Er sei kein Typ, sagt er, der sich für Wikipedia in Bibliotheken verkrieche, um an mehr Informationen zu kommen. Zudem arbeitet er unregelmässig. Manchmal ist er fast exzessiv damit beschäftigt, und dann lässt er es wieder für eine Weile liegen. Es komme darauf an, was sonst im Umfeld los ist, mit Frau und Kindern. Zur- zeit wendet er etwa eine Stunde pro Woche für sein Hobby auf, was eher wenig ist. Graf und «Badener» arbeiten, wie alle Wikipedianer – so nennen sich Aktive auf Wikipedia – freiwillig und unentgeltlich.

Graf ist etwas über 50 Jahre alt, ein grosser stattlicher Mann, mit dichten Augenbrauen. Er arbeitet im EDV-Bereich, gibt Seminare.

Doch was treibt ihn an, so viel Zeit in Wikipedia zu investieren? Ist er einfach ein Nerd? Ein Besserwisser? Pumpt er damit sein Ego auf? Will er sich durch diese Arbeit profilieren? Die Antwort ist überraschend unspektakulär: «Es ist die Neugierde», sagt er schlicht. Man interessiere sich für etwas und merke, dass es darüber keinen oder nur einen lückenhaften Eintrag gebe. Oder aber man finde nur einen fremdsprachigen Artikel, aber keinen Deutschen. «Ich mache mir dann jeweils einen Sport daraus und will den deutschen Artikel noch besser machen als den Französischen oder den Englischen. Ich will den anderen Autor übertrumpfen», sagt Graf und lacht dabei. Er habe aber gemerkt, dass er noch so viele Ideen für die Plattform hätte, Artikel, die man unbedingt noch schreiben müsste. Über Weinanbaugebiete zum Beispiel. Momentan ist Graf dran, französische Weinanbaugebiete zu erfassen. Aber dann gäbe es am Mittelmeer noch weitere Gebiete. Und wenn das gemacht sei, gebe es noch diverse Rebsorten, die noch nicht auf Wikipedia vertreten seien. Er hat aber einfach keine Zeit, die alle selber zu schreiben. Bei einem Artikel pro Woche laufe die ganze Sache etwas träge.

Von der Zeitung inspiriert

Der Wikipedianer mit dem Pseudonym «Badener» schreibt derweil darüber, was ihm im Alltag besonders auffällt. Wenn er beispielsweise in der Zeitung einen interessanten Artikel liest, fragt er sich, ob es dazu auch einen Wikipedia-Eintrag gibt. Wenn nicht, schreibt er einen. Denn als er 2003 einen Teil der Wikipedia-Gemeinschaft geworden war, war ein Grund für den Beitritt die Idee, sein Wissen mit anderen zu teilen.

Ungefähr 40000 Edits (Bearbeitungen) hat «Badener» in seinen 12 Jahren bei Wikipedia schon getätigt. Das klinge nach viel, sagt er, sei es aber nicht. Wann immer er einen Artikel editiere, und sei das auch nur, um irgendwo ein Komma oder einen Punkt hinzuzufügen, werde das gezählt.

«Badener» schreibt und editiert aber nicht nur: Er fotografiert seit etwa drei Jahren auch für Wikimedia Commons, eine Art multimediale Schwester von Wikipedia, auf der Fotos, Videos und Audiodateien zu finden sind. «Ich kombiniere Wikipedia mit meinen Interessen. Wenn ich etwas spannend finde, zum Beispiel ein Kloster, und es davon noch keine Bilder gibt, unternehme ich schon mal eine Fototour», sagt er. Besonders regionalgeschichtliche Ereignisse würden ihn dabei interessieren, etwa die Region Baden. Für solche Artikel sei die Alemannische Wikipedia, also die auf Schweizerdeutsch, jedoch besser geeignet.

Anonymität ist wichtig

«Badener» und Graf ist gemein, dass sie ihre Privatsphäre wahren wollen. Generell fällt auf: Anonymität wird bei Wikipedianern grossgeschrieben. Und das, obwohl sie sich eigentlich mit ihrer Arbeit brüsten könnten: Sie leisten schliesslich einen guten Beitrag für uns, recherchieren stundenlang, damit wir bei Fragen nur ihre Plattform aufrufen können und Antworten geliefert bekommen. Aber Wikipedianer sind vorsichtig: Man will nicht mit heiklen Artikeln oder Äusserungen in Verbindung gebracht werden. Schliesslich gibt es auch kontroverse und heikle Themen, wie zum Beispiel Religion oder Politik. Solche können schon mal für Diskussionsstoff unter den Mitgliedern sorgen.

Zwar sind Graf und «Badener» nur zwei Beispiele aus einer grossen Menge, aber durch den Einsatz von Leuten wie ihnen hat die deutsche Wikipedia mittlerweile um die 1,8 Millionen Einträge. In der Schweiz sind schätzungsweise 1500 bis 2000 Wikipedianer aktiv. Der Frauenanteil liegt – je nach Studie – zwischen 9 und 16 Prozent.

Jeder kann mitschreiben

«Auf Wikipedia kann jeder Laie mitschreiben, sofern er weiss, wie mit Tastatur und Maus umzugehen ist», sagt Graf bescheiden. Irgendwelche fachspezifischen Kenntnisse, über die er schreiben könne, habe jeder.

Dass jeder mitschreiben kann, ist das grosse Plus der Plattform, denn so vereint sie Spezialisten aus den verschiedensten Themengebieten. Zugleich ist es aber auch die Achillesferse. Es gibt immer wieder Leute, die beispielsweise Gewinnzahlen eines Unternehmens «optimieren», oder den politischen Rivalen verunglimpfen. Um solche Falsch-Einträge zu verhindern, kontrollieren Administratoren die ersten Artikel von neuen Benutzern genauestens.

Autoren können zudem sämtliche Artikel auf eine Beobachtungsliste setzen. Sie werden dann informiert, falls an diesen Artikeln etwas verändert wird, und können allenfalls einschreiten.

Auch wenn die Arbeit als Wikipedianer aufwendig ist: Sie scheint ansteckend zu sein. Denn nach Grafs jahrelanger Arbeit für Wikipedia hat auch seine Frau angefangen, Artikel zu schreiben. Und mit jedem Artikel, den Wissensgenerierer auf Wikipedia schreiben, wird die Enzyklopädie grösser. Dank ihrem Einsatz können wir auch weiterhin nur einen Begriff in die Suchmaschine tippen, um wieder etwas schlauer zu werden.

Name von der Redaktion geändert.