YouNow
Live aus dem Kinderzimmer: Selfie-Teenies gehen auf Sendung

Die Videoplattform YouNow funktioniert ähnlich wie Youtube – nur live. Teenies senden aus ihren Kinderzimmern. Das vielleicht verstörendste Jugendphänomen, seit es das Internet gibt.

Raffael Schuppisser und Alexandra Fitz
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Wo sie auch immer gerade sind, gehen Jugendliche mit ihrem Smartphone live auf Sendung. Jeder kann ihnen zuschauen, wie sie sich inszenieren und über die Banalität ihres Alltags plaudern.

Wo sie auch immer gerade sind, gehen Jugendliche mit ihrem Smartphone live auf Sendung. Jeder kann ihnen zuschauen, wie sie sich inszenieren und über die Banalität ihres Alltags plaudern.

Screenshots YouNow.com

Hanna streicht sich durchs Haar. Schon wieder. Sie wirkt nervös. Die Kamera ihres Laptops ist auf sie gerichtet. Hanna ist auf Sendung. Ihr Publikum: alle Internetnutzer. Zumindest theoretisch.

Jeder, der will, kann ihr zuschauen. Momentan wollen das elf Nutzer. Hanna gibt sich mühe, lustig zu sein. Sie will mehr Zuschauer – vor allem Fans, die sie «liken». Anerkennung ist die Währung hier auf YouNow, einer Online-Plattform, die ähnlich funktioniert wie Youtube – nur live. Während Hanna aus ihrem Kinderzimmer sendet, können ihre Zuschauer mit ihr chatten.

«Hast du einen Freund?», fragt Sebastian.

«Nein, habe ich nicht», antwortet Hanna in breitem Berndeutsch.

«Wie alt bist du?», will Marco wissen.

«Ich bin 14.»

«Hast du Facebook?», fragt ein anderer.

«Nein, ist langweilig, habe ich gelöscht. Du kannst hier mit mir chatten.»

Auch die Pädosexuellen sind da

YouNow ist die derzeit vielleicht meistgehypte Internet-Plattform. Täglich werden über das Portal 150 000 Sendungen von Nutzern ausgestrahlt. Die Hälfte der User sind Teenager.

YouNow ist aber auch das vielleicht verstörendste Jugendphänomen, seit es das Internet gibt. Wenn man den Teenies zusieht, wie sie sich verkrampft locker geben, wie sie bewusst cool dreinblicken und dabei über die Banalität ihres Alltags berichten, kommt schnell ein Gefühl von Fremdschämen auf.

«Hobbylos» war das Jugendwort des Jahres 2010, damit gemeint sind Menschen, die sich nicht mehr zu beschäftigen wissen. Ja, irgendwie wirken diese Jugendlichen auf YouNow total hobbylos. Oder ist die ständige Selbstinszenierung ihr Hobby?

Pädagogen sehen in diesem Phänomen nicht nur Schlechtes. «Es geht auch darum, Medienkompetenz im positiven Sinne zu zeigen», sagt Lehrer und Social-Media-Experte Philippe Wampfler gegenüber dem «Tages-Anzeiger». Um beachtet zu werden, müssten die Jugendlichen das Publikum unterhalten, etwas bieten. Dieser Wettbewerb um Aufmerksamkeit könne Spass machen und Kreativität fördern.

Die Plattform wird aber auch kritisiert. In Deutschland hat sich sogar das Bundesfamilienministerium gemeldet. Es warnt vor dem Streaming-Portal und findet es «höchst problematisch». Da die Nutzer für die ganze Welt sichtbar sind, sei YouNow ein Einfallstor für sexuelle Belästigung und könne Pädophile anziehen.

«Dass Pädosexuelle via YouNow einen ersten Kontakt herstellen können, ist nicht unrealistisch», sagt Flavia Frei von der Stiftung Kinderschutz Schweiz. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass viele User ihren richtigen Namen benutzen. Nicht selten geben sie auch an, wo sie wohnen und auf welche Schule sie gehen.

Es bestehe ein grosses Risiko für Cybermobbing und sexuelle Belästigung, sagt Thomas Vollmer, Leiter des Programms Jugend und Medien des Bundes. Es gebe zwar vonseiten der Plattform strenge Regeln (keine Nacktheit, Verbot von Mobbing), doch können diese aufgrund des Live-Charakters nicht umfassend kontrolliert werden.

Ausserdem können die User ihre Sichtbarkeit nicht auf bestimmte Nutzerkreise einschränken. «Der Jugendschutz ist damit nur ungenügend gewährleistet», so Vollmer.

Gedacht war YouNow ursprünglich auch nicht primär für die Selbstinszenierung von Jugendlichen. Der Unternehmer Adi Sideman gründete die Plattform 2011, um Musikern eine Bühne im Internet zu geben. Doch die Künstler wollten sie nicht recht nutzen. Dafür vermehrt Vertreter der Generation Selfie. Und nun wächst die Plattform rasant.

«Wer will mein Fan sein?»

Eigentlich sind die Streams auf YouNow auch nichts anders als ausführliche Video-Selfies in Echtzeit. Sie passen damit bestens in unsere von Narzissmus geprägte Zeit.

Facebook vernetzt Freunde gegenseitig – alle stehen auf der gleichen Stufe, können sich Nachrichten senden und sich an die Pinnwand posten. Bei YouNow hingegen herrscht eine klare Hierarchie. Einer inszeniert sich und wird von allen gesehen, die anderen können ihm bloss Chat-Nachrichten senden. Einer ist der Star, die anderen die Zuschauer.

Das grösste Problem der Plattform könnte dereinst in ihrem eigenen Erfolg liegen. Wenn alle Stars sein wollen, wenn alle auf Sendung gehen, dann gibt es plötzlich niemanden mehr, der zusieht.

Hanna auf jeden Fall legt sich noch immer ins Zeug für mehr Aufmerksamkeit. 13 Menschen schauen ihr momentan zu. Sieben Fans hat sie. Andere haben über Hundert. «Wer will noch mein Fan werden?», fragt sie.

Im Chat-Fenster passiert nichts. Hanna schaut etwas ratlos und streicht sich durchs Haar. Dann poppt plötzlich eine Message von Sebastian auf: «I become a fan.»
«Oh, so lieb, Sebastian», sagt Hanna und formt mit ihren Händen ein Herz vor der Brust. Sie lächelt, ihre Zahnspange blitzt hervor.