Überwachung
Handydaten in der Nähe eines Tatorts: Wie Unschuldige zu Verdächtigen werden

Zehntausende Handydaten wurden im Fall Rupperswil ausgewertet. Unter Umständen sind auch Sie ins Visier der Behörden geraten – ohne es zu merken. So funktioniert der Antennensuchlauf.

Noemi Lea Landolt
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Wer zur Tatzeit mit dem Zug in der Nähe des Tatorts vorbeifuhr, muss damit rechnen, dass die Handydaten von den Behörden gescannt wurden.

Wer zur Tatzeit mit dem Zug in der Nähe des Tatorts vorbeifuhr, muss damit rechnen, dass die Handydaten von den Behörden gescannt wurden.

Keystone

Mein Smartphone liegt neben mir auf dem Pult. Der Bildschirm ist schwarz. Obwohl ich das Telefon nicht brauche, ist es aktiv. In diesem Moment kommuniziert es über Funkzellen mit einer Antenne in der Nähe, ohne dass ich etwas merke. Es schickt seine Daten, die verraten, wo ich mich befinde. Würde ich telefonieren, Mails checken, ein SMS oder eine Whatsapp-Nachricht verschicken, übermittelte es der Antenne auch diese Informationen.

In der Schweiz sind alle Anbieter von Post-, Telefon- und Internetdiensten verpflichtet, das Kommunikationsverhalten ihrer Kunden aufzuzeichnen. Die sogenannten Randdaten werden sechs Monate lang gespeichert – man spricht von Vorratsdatenspeicherung.

Für die Daten interessieren sich auch die Strafverfolgungsbehörden. Sie können diese nach einem Verbrechen und mit der Bewilligung des Zwangsmassnahmengerichts von den Netzbetreibern rückwirkend verlangen und auswerten. Im Zusammenhang mit dem Vierfachmord in Rupperswil hat die Staatsanwaltschaft Aargau mehrere zehntausend Handydaten ausgewertet.

Die Verbindungsdaten lassen sich über die Rufnummer einer Person zuordnen. Die Strafverfolgungsbehörden können die auf die Rufnummer registrierten Personendaten bei den Fernmeldedienstanbietern anfragen. Seit November 2002 geht das auch bei
Prepaid-Handys, weil auch sie registriert werden müssen.

Juristen kritisieren Methode

Theoretisch könnten die Strafverfolgungsbehörden all diese Handynutzer identifizieren und von ihnen ein Bewegungsprofil erstellen. Sie könnten herausfinden, mit wem und wie lange sie telefoniert haben oder an wen sie ein SMS geschickt haben.

Handydaten werden sechs Monate lang gespeichert.

Handydaten werden sechs Monate lang gespeichert.

Marco Tancredi

Im «Tages-Anzeiger» kritisierten verschiedene Strafrechtler den rückwirkenden Antennensuchlauf im Fall Rupperswil als unzulässig und problematisch für einen Rechtsstaat. Gegenüber der «Nordwestschweiz» sagt Viktor Györffy, Strafverteidiger und Präsident des Vereins Grundrechte.ch: «Wer zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort war, dessen Daten werden angeschaut – ohne Tatverdacht.»

Die Behörden schnüffeln also auch in den Daten von Unschuldigen. Meistens ohne dass diese davon erfahren. «Es gibt keine greifbare Praxis, ab wann jemand informiert werden muss», sagt Viktor Györffy. Er vermutet, dass die Behörden praktisch niemanden darüber informieren, es sei denn ein Verdacht erhärtet sich.

Wer sich also zum Tatzeitpunkt in der Nähe eines Tatorts aufgehalten hat, muss damit rechnen, dass seine Vorratsdaten möglicherweise von den Behörden gescannt wurden. Vielleicht kommen die Ermittler schnell zum Schluss, dass jemand nur im Zug vorbeigefahren ist, dann werden die Daten nicht genauer analysiert. «Aber unter Umständen können die Strafbehörden mithilfe der Daten einen Tatverdacht konstruieren und Unschuldige sind plötzlich in ein Strafverfahren verwickelt», sagt Viktor Györffy. «Das kann dazu führen, dass man im Nachhinein in Nöte gerät und erklären muss, weshalb man zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort gewesen ist.»

Geheimdienst dürfte schnüffeln

Die Überwachung von Handydaten führt auch in der Politik immer wieder zu Diskussionen. Die Juso, die Grünen und die SP sowie Grundrechtsorganisationen haben erfolgreich das Referendum gegen die Revision des Nachrichtendienstgesetzes ergriffen. Das neue Gesetz ändert gemäss Viktor Györffy nichts in Bezug auf den strafrechtlichen Bereich. Es würde aber ermöglichen, dass nicht mehr nur die Strafverfolgungsbehörden auf die Vorratsdaten zugreifen dürften, sondern neu auch der Nachrichtendienst. Viktor Györffy kritisiert das neue Gesetz: «Es darf nicht sein, dass der Nachrichtendienst so viel Macht hat, zumal sich seine Überwachungen oft im Bereich von Vermutungen bewegen, also ein Tatverdacht fehlt.»

Ob die gespeicherten Handydaten überhaupt zur Aufklärung von Verbrechen beitragen, ist nicht bewiesen. Das Max-Planck-Institut kommt in einem Gutachten im Auftrag des deutschen Bundesamtes für Justiz zum Schluss: «Im Vergleich mit den Aufklärungsquoten, die in Deutschland und in der Schweiz im Jahr 2009 erzielt worden sind, lassen sich keine Hinweise darauf ableiten, dass die in der Schweiz seit etwa zehn Jahren praktizierte Vorratsdatenspeicherung zu einer systematisch höheren Aufklärung geführt hätte.»
Ob im Fall Rupperswil am Ende die Handydaten zum Täter führten, sagt die Staatsanwaltschaft nicht.