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Leben
Der Mann war Jäger, die Frau hütete Kinder: Dieses Bild der Urzeitmenschen wird oft herangezogen, um Familienmodelle oder Geschlechterrollen zu rechtfertigen. Archäologin Brigitte Röder sagt im Interview, wie es früher wirklich war.
Brigitte Röder: Die Idee, dass Männer von Natur aus Jäger seien, ist ein Klischee. Das Bild vom mutigen Jäger, der einem Mammut auflauert, finden wir in vielen Schulbüchern, Museen, Romanen oder Filmen. Der Mann soll seit Urzeiten die Familie ernährt haben, während sich die Frau um Kinder und Haushalt gekümmert habe.
Um dieses Klischee rankt sich die Vorstellung von der gefährlichen und heldenhaften Grosswildjagd, die Männersache gewesen sei. Sie fand zwar statt, aber ihre Bedeutung wird massiv überschätzt. Das zeigen moderne archäologische Untersuchungen. Dank feinerer Grabungsmethoden finden wir an Fundstellen aus der Altsteinzeit inzwischen auch Skelettreste von kleinen Tieren und sogar Fischschuppen. Daher wissen wir, dass der Fischfang eine grosse Rolle spielte, ebenso die Jagd auf Kleinwild und Vögel. Das Bild der heldenhaften Grosswildjagd muss also überdacht werden. Das Nahrungsspektrum war viel breiter.
Einem Speer oder einem Bogen sieht man nicht an, ob ein Mann oder eine Frau ihn benutzt hat. Wer in der Urgeschichte gejagt hat, ist nicht mit letzter Sicherheit zu entscheiden. Dafür bräuchte man Schriftquellen. Wir ziehen stattdessen Vergleiche aus historischen Zeiten heran. So haben Ethnologen Gemeinschaften beschrieben, in denen auch Frauen gejagt haben. Bekannt ist auch, dass bei den Inuit Mädchen zur Grosswildjagd ausgebildet wurden, wenn der männliche Nachwuchs in der Familie fehlte. Kurz: Es gibt keinen Grund, auszuschliessen, dass Frauen auch in der Urgeschichte gejagt haben.
Die Geschlechterrollen, die für die Urgeschichte gezeichnet werden, sind ungemein stereotyp. Stets erscheinen die Männer als Ernährer, die mobil waren, Handel oder Bergbau betrieben und sämtliche Innovationen kreierten. Ihnen stehen die ewigen Hausfrauen und Mütter am Herdfeuer gegenüber. Diese Rollenteilung geht auf Idealvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts zurück. Damals wurde das Geschlechter- und Familienmodell neu konstituiert und für universal erklärt. Es wurde auch festgelegt, welchen «Geschlechtscharakter» Männer respektive Frauen haben. Noch heute gilt dieses bürgerliche Geschlechtermodell vielfach als ursprünglich – und wird auf die Urgeschichte projiziert.
Historisch und ethnografisch ist eine unglaubliche Vielfalt an Geschlechtermodellen, Familien-, Verwandtschafts- und Haushaltsformen belegt. Wer für archäologische Befunde Analogien sucht, müsste also ein breites Spektrum in Betracht ziehen. Interessanterweise fokussieren die meisten Interpretationen aber auf das, was wir von der bürgerlichen Gesellschaft kennen. Etwa die Idee, dass in jedem Pfahlbau eine Kernfamilie wohnte. Studien der Universität Basel zeigen jedoch, dass diese Idee falsch ist. Die Siedlungen waren erstaunlich kurz bewohnt, manche nur acht oder zwölf Jahre. Die Gruppen müssen sich immer wieder aufgeteilt und neu zusammengesetzt haben. Die Vorstellung von Bauernfamilien, die über Jahrhunderte im selben Dorf gelebt haben, muss aufgegeben werden.
Ja. Fragen, die gegenwärtig stark beschäftigen, werden auch in der Archäologie behandelt. Eine aktuelle These ist etwa, dass es in der Bronzezeit eine erste Globalisierungswelle von Westeuropa bis China gegeben habe. Oder mittlerweile kommen auch die sogenannten neuen Väter in der Archäologie an. Zum Beispiel in einer Ausstellung, die einen Vater zeigt, der seinem Kind den Po abwischt.
Mit archäologischen Funden können wir solche Fragen nicht beantworten. Wie auch? Wir haben Hausruinen, materielle Kultur und darunter ganz wenige Objekte, die wir mit Kindern in Verbindung bringen können. Ohne Schriftquellen ist völlig offen, wer sich um sie gekümmert hat. Das sieht man auch einem Skelett nicht an. Die Wissenslücken werden deshalb leider häufig mit Vorstellungen gefüllt, die uns vertraut sind und die wir für ursprünglich halten. Deshalb erscheinen sie plausibel und werden nur selten hinterfragt.
Vor etwa dreissig Jahren. Seither gibt es diverse Beispiele, die bisherige Bilder auf den Kopf stellen. Sehr interessant finde ich Hallstatt, eine Fundstelle in Österreich. Dort gab es in der Eisenzeit sowohl ein Salzbergwerk als auch den dazugehörigen Friedhof. Anhand markanter Unterschiede an den Skeletten von Männern und Frauen liess sich eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung rekonstruieren. Ergänzt durch die Funde im Berg, liess sich zeigen, dass die Männer das Salz mit Bronzepickeln geschlagen und die Frauen es nach oben getragen haben. Ein sehr überraschendes Ergebnis brachte auch die Untersuchung der Kinderskelette: Sie zeigte, dass auch Kinder in den Bergbau involviert waren und sehr schwer gearbeitet haben.
Im Bergwerk fand man neben Kinderschuhen auch eine Babykappe. Die Kinder waren also von klein auf dabei und sind in die Arbeit buchstäblich reingewachsen. Nach Ausweis der Skelette müssen die Kinder etwa ab dem Alter von fünf bis sieben Jahren hart gearbeitet haben. Das sprengt all unsere Vorstellungen von einer behüteten Kindheit. Die Bergleute von Hallstatt waren zudem enorm reich. In ihren Gräbern fanden sich kunsthandwerkliche Spitzenprodukte aus kostbaren Rohmaterialien, darunter importiertes Elfenbein und Bernstein. Auch das sprengt gängige Klischeevorstellungen.
Wir nehmen ja an, dass Menschen, die so reich waren wie jene in Hallstatt, andere – beispielsweise Sklaven – für sich arbeiten liessen und sich darauf beschränkten, den Reichtum abzuschöpfen. Doch selbst bei ganz reich bestatteten Individuen sieht man anhand der Skelette, dass sie von frühster Kindheit an hart gearbeitet haben. Das passt nicht zu den gängigen Vorstellungen von Reichtum und gesellschaftlichen Hierarchien.
Für die ganz frühen Zeiten gibt es nur Fossilien, und zwar meist nur Fragmente, sodass eine Geschlechtsbestimmung oft gar nicht möglich ist. Erst aus den letzten 40 000 Jahren gibt es dann auch vermehrt komplette Skelette, die im Hinblick auf Tätigkeiten, Gesundheitszustand oder Lebenserwartung von Frauen und Männern untersucht werden können. Neue geschlechtergeschichtliche Erkenntnisse liefern auch forensische Methoden. Etwa zur Höhlenmalerei. Bis vor kurzem ging man ganz selbstverständlich davon aus, dass sie das Werk von Männern war.
Das Bild von den altsteinzeitlichen Männern, die die Kunst erfunden haben, bekommt Risse, weil man an Handabdrücken sehen kann, dass auch Frauen ihre Hände auf den Höhlenwänden verewigt haben. Ebenso Kinder. Wir müssen davon ausgehen, dass Männer, Frauen und Kinder vermutlich gemeinsam in Höhlen rituelle Praktiken durchführten. Nicht zuletzt deshalb ist zu hinterfragen, weshalb die figürlichen Darstellungen ausschliesslich von Männern stammen sollten. Dafür gibt es keinen Beweis – und auch keinen Grund. Was für Männer selbstverständlich und ohne wissenschaftliche Grundlage gesetzt wird, braucht für Frauen umgekehrt eine hieb- und stichfeste wissenschaftliche Beweisführung – etwa, dass sie auch einen Beitrag zur Ernährung, zur Kunst oder zu Innovationen geleistet haben.
Ich finde es unsinnig – und obendrein unwissenschaftlich, denn hier wird methodisch mit zweierlei Mass gemessen.
Das Denken verändert sich, aber sehr langsam. Als Prähistorikerin, die auf zweieinhalb Millionen Jahre Menschheitsgeschichte zurückblickt, bin ich an das Denken in langen Zeiträumen jedoch gewöhnt.