Die Fakten der Statistik sind knallhart: Mehr als einem Drittel aller Kinder in Deutschland wird nie vorgelesen. Nicht einmal ihre Mütter können sich aufraffen, Lesesozialisation mit dem Kuschelfaktor zu verbinden. Von den Vätern ganz zu schweigen.
Auch das erfahren wir nebenbei von Amelie Fried und Ijoma Mangold, die letzten Freitag im ZDF angetreten sind, als «Die Vorleser» der Nation.
Sechsmal im Jahr wollen die beiden ein halbes Stündchen lang Abhilfe schaffen – zumindest für die Grossen, die so spätabends noch wach sind und noch immer nicht in das passende Buch vertieft sind. Nebenbei: Das ist Konzept und Prinzip der halben Vorlesestunde mit immerhin einem Originalsatz. Aus welchem Buch er stammt, sollen wir raten.
Die Zuschauer sollen nicht belehrt, sondern plaudernd zum Lesen angestiftet werden, wie schon in Zeiten der Elke Heidenreich, bevor sie es sich mit dem Fernsehen verscherzte. Pikanterweise als Schützenhilfe für Marcel Reich-Ranicki: Die Nestbeschmutzung also hat Tradition unter den TV-Vorlesern; wir sind schon gespannt, was sich Fried und Mangold einfallen lassen, um ihre eigene Sendung baldmöglichst selbst aus dem Programm zu kippen.
Zur Premiere jedenfalls machten sich Fried und Mangold der Literatur und dem Fernsehen so freundlich dienstbar, wie sich Verleger und Intendanten das nur wünschen können: Mangold, der eloquente «Zeit»-Feuilletonist, mit markanter Mimik und markigen Formulierungen, auf dem besten Wege, in die Fussstapfen des grossen R.-R. zu treten. Sogar den Zeigefinger brachte er hin und wieder ins Spiel, und es hatte etwas durchaus Kokettes.
Amelie Fried, mit ihrer kaltschnäuzigen Direktheit als Jungmoderatorin von «Live aus dem Schlachthof» noch wehmütig in Erinnerung, übernahm den Gegenpart der reifen Dame in schwarz-weiss gestreifter Bluse und etwas ältlich wirkender Frisur – mit so viel Selbstironie, sich als «alte Schachtel» für junge amerikanische Literatur ins Zeug zu legen.
Im ZDF-Studio wehte merklich der Geist des alten «Literarischen Quartetts», wenn auch mehr als Party-Smalltalk inszeniert. Zwei rote Sofas bieten reichlich freie Plätze – erstaunlicherweise durfte sich aber nur ein einziger Gast für ein paar Minuten dazugesellen, der Schauspieler Walter Sittler. Im Hintergrund waren derweil Regale mit bunten Bücherattrappen zu sehen. Das spricht Bände.
Zu mehr als oberflächlicher «Umstandskrämerei» (O-Ton Mangold) nämlich taugen dreissig Minuten lockeres Gespräch über annähernd zehn Titel schlichtweg nicht aus. «Wir werden das jetzt nicht erschöpfend behandeln können», ist von Amelie Fried zwischendrin über Per Olov Enquists Autobiographie «Ein anderes Leben» zu hören. Das ist schon purer Sarkasmus.
Andererseits: Wer verbringt heute schon regelmässig ganze dreissig Minuten am Stück in einer Buchhandlung? Und trifft dort auf Buchhändler, die tatsächlich gelesen haben, was sie anpreisen? Wird nicht so ausgiebig und selbstverliebt diskutiert, bleibt mehr Zeit für die eigene Lektüre. Einer der schönsten Titel dieses Bücherfrühlings übrigens war in der zwangsläufig willkürlichen Auswahl leider nicht dabei: Nadia Buddes Kindheitserinnerungen in Comic-Format, «Such dir was aus, aber beeil dich». Er hätte so schön gepasst.
Bettina Kugler