Sudhir Venkatesh Nicht jeder Schwarze aus Chicago bringt es bis zum Präsidenten. Im Gegenteil. Der Soziologe Sudhir Venkatesh unternimmt im Buch «Underground Economy» eine Feldforschung in den Schwarzen-Ghettos der Robert Taylor Homes. Martin Zähringer
Wenn ein Soziologe Feldforschung betreibt, treffen zwei Mentalitäten aufeinander: Einer aus dem Elfenbeinturm trifft auf jene an der Armutsgrenze. Sudhir Venkatesh von der Columbia University in New York hat es trotzdem gewagt und liefert in seinem Buch «Underground Economy» neben einer Fülle an interessanten Einblicken auch ein Meisterstück in selbstreflexiver Sozialwissenschaft.
Venkatesh begann in den 1990er-Jahren, sich für die schwarze Community in den Robert Taylor Homes in Chicago zu interessieren. Chicago hatte diese Hochhausbauten in den 1960er- Jahren für etwa 30 000 Menschen als Ersatz für abgerissene Innenstadtbezirke gebaut. Sie entwickelten sich zu einem der härtesten Ghettos der USA mit einer weitgehend von Sozialhilfe abhängigen und weitgehend schwarzen Bevölkerung. Hier wollte Sudhir Venkatesh soziologisch die Armut erforschen. Mit einem Fragebogen zog der junge Forscher ins Feld – dieser imponierte dort jedoch keinem, Venkatesh wurde erst einmal von einer Gang bewaffneter Drogendealer auf ihrem Terrain verhaftet.
Spannend beginnt dieses Buch, und spannend bleibt es bis zum Schluss. Venkatesh hat seine teilnehmende Beobachtung über zehn Jahre lang betrieben, dazu bedurfte es allerdings des Schutzes – der Boss der Dealer, genannt J.T., nahm ihn unter seine Fittiche. Sein Motiv: der neugierige Akademiker sollte seine Biographie schreiben – die Biographie eines mittleren Chefs der Black Kings, der nicht nur die Crack-Szene in seinem Umfeld kontrollierte, sondern mit seinem Fussvolk auch dafür sorgte, dass sich die illegalen Hausbewohner ordentlich verhielten, dass die gewalttätigen Männer im Zaum gehalten wurden und dass die Prostitution nach gewissen Regeln ablief.
Der Verrat des Soziologen begann schon hier. Er liess J.T. in seinem eitlen Glauben, während die Arrangements mit den Professoren an der Uni auf etwas ganz anderes hinausliefen – auf eine profunde Dissertation über die Armut im Ghetto mit klarem Einblick in die Strukturen einer grossen Gang. Venkatesh erhielt als Schützling von J.T. einen sehr genauen Einblick, er wurde sogar von dessen Mutter verköstigt, gewann das Vertrauen der Umgebung und konnte auch die fragwürdigen Arbeitsweisen der obersten Hausmeisterin Ms Bailey genau beobachten.
Mit Venkateshs persönlichem Forschungsbericht «Underground Economy» wird nun der nichtakademische Leser in dieses Leben eingeführt, und das Bild ist faszinierend. Es ist keineswegs nur geprägt von bitterer Armut, Resignation und Drogensucht. Die Menschen wissen sich zu helfen und haben, der Situation entsprechend, solidarische und funktionierende Zusammenhänge geschaffen.
Der Leser erhält aber auch eine Einführung in den klassischen Konflikt der soziologischen Repräsentation. Diesen Konflikt legt Sudhir Venkatesh nun ebenso offen wie zuvor die eifrig gesammelten Daten zu den diskreten Formen des Über-die-Runden-Kommens. Einmal beschreibt er, wie er die Nebenerwerbsquellen der Bewohner ermittelte und dann stolz zu J. T. und der korrupten Hausmeisterin lief, um «die Daten abzugleichen». Worauf diese dann allerdings nichts Eiligeres zu tun hatten als ihre «Steuern» zu erheben. Damit war der Professor bei den Bewohnern erstmal untendurch, J.T. aber nahm seinen Schützling mit zu den Gipfeltreffen der Black Kings.
Das naive Verhältnis des Akademikers zu den Daten hat eine grössere ethische Dimension: Am Ende der Forschung steht keine Verbesserung der Lage, sondern nur der Abriss der Robert Taylor Homes und die Zerstreuung der Community. Dagegen konnte der teilnehmend beobachtende Armenforscher ebenso wenig unternehmen wie gegen die Korruption der Behörden und die allerdings genau beschriebenen Machenschaften der Polizei, die auf ihre Weise das Crack-Unternehmen Black Kings «teilnehmend» beobachtete. Sudhir Venkatesh bleibt eine gute Karriere mit einem schlechten Gewissen, aber mit diesem ehrlichen Bericht hat er ein Buch geliefert, das auch die ehemaligen Bewohner der Robert Taylor Homes lesen könnten.
Sudhir Venkatesh: Underground Economy. Was Gangs und Unternehmen gemeinsam haben. Aus dem Amerikanischen von Christoph Bausum. Econ, Berlin 2008, Fr. 32.90