Der Sohn einer mausarmen Weberfamilie aus Sachsen schrieb sich aus dem Elend – aus dem materiellen, aber auch aus dem psychischen, weil er ungehemmt seine Biografie mystifizierte. Heute würde er 175 Jahre alt.
Wer liest heute noch Karl May? Die Jugend wahrscheinlich nicht mehr, wenn sie überhaupt noch liest. Aber die Faszination von Winnetou und Old Shatterhand ist ungebrochen. Es gab sogar ein Remake im Film (ein Dreiteiler wie die Winnetou-Trilogie, aber erheblich umgeschrieben; war über die Weihnachtstage zu sehen) und die Bühnen spielen weiterhin May. Nicht nur die Festspiele, sondern auch «ernsthaftere», die das ganze Drumherum thematisieren.
Das Narzissmus-Gerede aus den USA hat dem «Volksschriftsteller» sicher nicht geschadet. Im Gegenteil. Literaten haben zuweilen ein eigenes Verhältnis zu ihrem Ich. Aber wenn es einen Narzissten gibt (einen «überzeugten» darf man einen solchen ja aus sprachlogischen Gründen nicht nennen), dann war es Old-Shatterhand-Kara-Ben-Nemsi-Charley-Scharlih-Karl-May. Er tritt noch unter viel mehr Namen auf, aber diese reichen fürs Erste.
Schund oder nicht Schund? Das war die Frage, welche ganze Elterngenerationen noch umtrieb, als ihre Sprösslinge noch Bücher gelesen haben. Es verbietet sich allerdings, die Frage auf die Sinnhaftigkeit des Gamens oder dergleichen aktualisierend anzuwenden. Hier geht es um etwas völlig anderes.
Die richtige Antwort auf die damalige Elternfrage wäre wahrscheinlich «Kitsch» gewesen. Aber das erkläre man einmal einem Teenager. Natürlich waren die Kids schon alle Indianer und «Gobois», bevor sie auch nur buchstabieren konnten. Anschleichen und Pfeilbogen, Marterpfahl und Tipi – mindestens so gut wie «Strassenkicken». Textbausteine wie «Howgh! Ich habe gesprochen!» oder «Stirb, du Schuft!» oder überhaupt die ganze Indianermanier stammten zwar wohl ursprünglich von James Fenimore Cooper und seinen «Lederstrumpf»-Geschichten, aber mit derlei Feinheiten brauchte man sich nicht abzugeben. Jeder wollte «Winnetou» sein oder dann mindestens ein Apatsche. Uncas, der letzte Mohikaner oder gar der unaussprechliche Chingachgook interessierten nicht.
Dabei war es Cooper, der den «Winnetou»-Sound prägte. Inn-nu-woh – so tauchte der Häuptling literarisch auf – prügelte und skalpierte sich zwar auch schon durch frühere Storys, aber die Winnetou-Trilogie von 1893 intonierte dann erstmals diesen melancholischen Song der aussterbenden roten Rasse – zuerst von May als Parallele zum untergehenden Osmanischen Reich inszeniert («der kranke Mann vom Bosporus», dann aber als welt- oder heilsgeschichtliches Spektakel mit allerlei populärphilosophischen Elementen unterfüttert. Cooper zeigt uns in Chingachgook zwar zuerst den «edlen Wilden» mit all seinen Attributen: eher wortkarg, stoisch, unempfindlich gegen Schmerzen, aber jederzeit bereit, allen zu helfen, die in Not gekommen sind. In seinem Tod aber lässt er alles fallen, was christlich-zivilisiert anmuten könnte: Er stimmt mitten in einem Waldbrand seinen Todesgesang an und lässt sich auch von seinem Freund Natty um keinen Preis retten. Er bewahrt dadurch seine Identität – im Untergang. Brian Moore hat das in «Black Robe» meisterhaft aufgenommen.
Das war kein Kitsch. Im Gegensatz zu Winnetou, der seine letzten Lebenssekunden noch zum Christen-Bekenntnis nutzen muss. Der erste Band von Mays Winnetou-Trilogie ist noch nicht ganz dort angekommen. Old Shatterhand wird als Greenhorn in den Wilden Westen eingeführt. Selbstredend kann er aber alles schon viel besser als die etablierten Westmänner. Reiten, schiessen, schleichen, prügeln, stechen, Spuren lesen – der Autor May lässt zwar zu, dass seine Ich-Figur hin und wieder beschulmeistert und gehänselt wird, hat aber bereits im Text Figuren besetzt, die Widerrede üben. Und die Ereignisse geben ihm (dem Roman-Ich, das schon ziemlich schnell als Old Shatterhand geadelt wird) natürlich sowieso Recht. Es ist «love at first sight», aber Winnetou kapiert es noch nicht sogleich, und so manövriert Shatterhand sich und die Geschichte durch allerlei Missverständnisse, bis die Apotheose (seine als grösster Freund der Indianer, der guten wenigstens) klappt. Die Blutsbrüder reiten hinfort zusammen, die Hetero-Liebesgefahr ist auch abgewendet (Winnetous Schwester, die schöne Nscho Tschi, hat ein Auge auf Shatterhand geworden, fällt aber ebenso der Kugel eines Meuchelmörders zum Opfer wie der potenzielle Schwiegervater) und die gemeinsamen Abenteuer können beginnen – oder weitergehen.
Die Zweisamkeit hat eine Bedeutung. Allerdings ist nicht ganz klar, welche. Das andere Ich von May, Kara Ben Nemsi, der im Orient wirkt, hat ja auch einen Kameraden, den eher komischen Hadschi Halef undsoweiter (früher konnten manche seinen Namen, der über mehr als drei Zeilen ging, auswendig reproduzieren; aber damals konnte man auch noch Schiller und Goethe auswendig). Dieser Halef ist aber im Ursprung keine Lichtgestalt. Die Hadsch hat er erfunden, nach Mekka kommt er erst mit seinem Effendi, auch sonst fällt er mit vorlautem Tun, Prahlerei, manchmal Hochstapelei, unangenehm auf. Karl May allerdings zeigt Grossmut und lässt ihn diese Fehler Band für Band korrigieren. Offenbar hat sich Shatterhand-Nemsi auch hier verdoppelt. Ist Winnetou als untadeliger Tugendbold die «gute Seite» seines Autors, verkörpert der arme Halef unzweifelhaft die eher «dunkle». Jeder weiss, dass Karl May ein eher unruhiges Jugend- und Flegelalter durchlebte. Schwindeln, Betrügereien und Amtsanmassungen brachten ihm Besserungsaufenthalte in Strafanstalten ein.
May hat diese Episoden ungehemmt «literarisiert». Oft kommen ihm – auf seinen Reisen – gewisse Autoritäten etwas grob. Kara Ben Nemsi und Old Shatterhand stellen souverän die Verhältnisse richtig. Die Autoritäten sind dann in der Regel ziemlich willfährig und entschuldigen sich zerknirscht. Ist die Produktion Schund, weil der Autor moralisch fragwürdig ist? Einer, der im Gefängis war ...? Der Inhalt widerlegt dies allerdings umgehend: Da trieft es von Christentum und Vergebung und Moral, und das argumentum ad hominem ist ja auch nicht sehr fair.
Ab 1890 tourte Buffalo Bill durch Europa, 1893 wollte Mays Verleger von der Begeisterung für den Wilden Westen, welche diese populären Shows erzeugten, profitieren. May tat ihm den Gefallen gern. Mit dem Erfolg kamen aber auch die Neider. Sie wühlten in Mays Vor-Leben und stellten ihn als Autor hin, der sehr freimütig mit dem realistischen Teil seiner Phantastereien umging. In Amerika war er natürlich nie gewesen, auch im Osten nicht – damals. Heute staunt man, wie gut und wie lange das überhaupt funktioniert hat. Die 13-jährige bayrische Prinzessin Wiltrud lässt 1897 fragen, wer denn jetzt der Häuptling der Apatschen sei. «Oberster ich noch, siehe ‹Winnetou› Band I», antwortet der Autor 1898.
Zehn Tage vor seinem Tod, am 22. März 1912, hält Karl May in Wien einen triumphalen Vortrag mit dem Titel «Empor ins Reich der Edelmenschen». «Das ist der einzige Weg in die Zukunft einer besseren Welt!», doziert May. «Wir müssen zuallererst danach trachten, selber Edelmenschen zu werden und die anderen Mitmenschen durch unser Beispiel auch dazu zu erziehen.» Als May wirklich in den Orient reiste, kam er in eine gesundheitliche und Lebenskrise. Um 1900 konstatiert man eine «Wende» im Werk. Er wird dann später die «Flunkerei» der Identifikation mit seinen Superhelden poetologisch erklären. Metaphorisch sei das gemeint gewesen. Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi hätten die Welt auf der Suche nach Edelmenschen durchstreift, welche ihre animalische Gewaltnatur hinter sich gelassen hätten. Und wo sie keine finden (offenbar sind sie sehr selten), müssen sie halt den armen Erlösungsbedürftigen selbst ein Beispiel geben.
Bertha von Suttner, Friedensaktivistin, findet das gut. May schliesst auch den Wiener Vortrag mit «Und Friede auf Erden!» Im Spätwerk lässt er gar den edelsten Edelmenschen leibhaftig auftauchen. Der Dschirbani kommt vom Berg runter und der Autor May lässt sich hinreissen, diesen Typen so ehrwürdig zu schildern, dass die Nemsi-Figur völlig beeindruckt «zu ihm hinaufschaut». Auf die Frage, ob er Shatterhand/Ben Nemsi sei, sagt er: «Ich war es.» Schliesslich aber bequemt sich der Dschirbani doch noch zum Bekenntnis, dass – gemäss seiner Vision – «der scheinbar Kleinere, zu mir, dem scheinbar Grösseren» heruntergestiegen sei, um ihn zu erlösen.
Also doch Kitsch. Oder: Auch der alleralleredelste der Edelmenschen kann guten Herzens Narzisst sein.