Medizin
Der Arzt rät per App oder aus der Ferne

In Krisengebieten mangelt es oft an medizinischer Versorgung. Hoffnung verspricht modernste Kommunikationstechnologie – allerdings nur, wenn sie überlegt eingesetzt wird.

Michael Baumann
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Dieses Spital im Osten Aleppos wurde nach einem Luftangriff behelfsmässig repariert. Im Innern arbeiteten die Ärzte weiter. Karam Almasri/MSF

Dieses Spital im Osten Aleppos wurde nach einem Luftangriff behelfsmässig repariert. Im Innern arbeiteten die Ärzte weiter. Karam Almasri/MSF

KARAM ALMASRI/MSF

Zweiunddreissig Ärzte gab es noch im Ostteil der vom Krieg zerbombten syrischen Millionenstadt Aleppo, bevor die Evakuierungen vor wenigen Tagen begonnen haben. Darunter war kein einziger Kinderarzt mehr. Zum Vergleich: In der sechsmal kleineren Stadt Zürich praktizieren über 3000 Ärzte. Die meisten Mediziner in Aleppo sind ums Leben gekommen oder geflüchtet. So gab es in der Stadt immer weniger Fachwissen, um Kranke und Verwundete richtig behandeln zu können: Wie wird die Lungenentzündung einer schwangeren Frau geheilt? Oder wie ein Kleinkind operiert?

Unterstützung erhielten die Ärzte im Kriegsgebiet von ausländische Kollegen – und zwar direkt per Smartphone. So war der britische Kriegschirurg David Nott kürzlich via Skype von London aus live bei einer Operation in einem Spital in Aleppo dabei. Er half zwei jüngeren Chirurgen bei einem komplizierten Eingriff, um den durch eine Bombenexplosion zerfetzten Unterkiefer eines Mannes wiederherzustellen.

32 Ärzte...

... gab es noch im Ostteil von Aleppo, bevor die Evakuierungen begannen. Zum Vergleich: Zürich ist sechsmal kleiner, dort praktizieren über 3000 Ärzte. Online-Hilfe von Medizinern kann manchenorts viel bewirken.

«Solche Live-Einsätze sind jedoch selten, denn in vielen Kriegsgebieten und Entwicklungsländern ist das Internet für eine Videoverbindung schlicht zu langsam», sagt der Kinderarzt Daniel Martinez von der humanitären Organisation Ärzte ohne Grenzen. Häufiger holen sich Ärztinnen und Ärzte daher Rat bei Kollegen über eine Kurznachricht oder eine E-Mail. «So dringend solche Anfragen aber auch sind – SMS und Whatsapp sind der falsche Weg», warnt Martinez. Denn einerseits seien diese Kommunikationswege oft nicht sicher und würden von Regimes abgehört. Andererseits ist die Kommunikation über Whatsapp fehleranfällig. Im schlimmsten Fall könnten so sogar Patienten miteinander verwechselt werden.

Medizinischer Rat aus der Cloud

Aus diesem Grund hat Martinez bei der Hilfsorganisation geholfen, einen speziellen Dienst aufzubauen, der Ärztinnen und Ärzten in Krisengebieten systematisch und sicher helfen soll. Martinez ist einer von vier Koordinatoren weltweit, die die verschlüsselte Website 24 Stunden am Tag betreuen. Täglich erhalten sie Anfragen von Ärzten aus Entwicklungsländern und Krisengebieten, die bei einem medizinischen Fall nicht weiterwissen. Oft enthalten die Anfragen auch Röntgenbilder, Fotos oder Videos. Martinez und seine Kollegen beurteilen innert 15 Minuten, an welchen Spezialisten sie den Fall weiterleiten wollen. Dafür steht ihnen ein Netzwerk aus 280 Ärzten aus der ganzen Welt zur Verfügung. Darunter sind die Mediziner von «Ärzte ohne Grenzen» selbst, die Erfahrung mit Krankheitsbildern wie Unterernährung und Parasiteninfektionen haben. Aber auch Spezialisten wie Hautärzte, Augenärzte oder Chirurgen stellen ihr Wissen zur Verfügung – und zwar unentgeltlich. Normalerweise hat Martinez in vier bis fünf Stunden einen qualifizierten Behandlungsvorschlag, den er an den behandelnden Arzt im Krisengebiet übermitteln kann. «Wir sind oft sogar schneller, als wenn jemand hier in der Schweiz zum Arzt ginge», sagt Martinez. Die Stärke des Systems sei aber nicht nur die Geschwindigkeit, sondern dass die Experten durch eigene Erfahrungen in Krisengebieten auch genau wissen, welche Behandlungsarten dort überhaupt realistisch sind. «Der beste Spezialist bringt uns nichts, wenn er ein teures Medikament oder Gerät zur Behandlung vorschlägt, das gar nicht zur Verfügung steht», sagt Martinez.

Doktor in der Hosentasche

In vielen Gebieten der Welt gibt es jedoch schlicht zu wenig oder gar keine Ärzte. So leben zum Beispiel in einigen Ländern Afrikas und Südamerikas viele Menschen eine oder mehrere Tagesreisen entfernt vom nächsten Spital. Deshalb sind in den letzten Jahren immer mehr Apps entwickelt worden, die eine Diagnose selbstständig stellen können. Zum Beispiel «Ubenwa»: Die App von nigerianischen Programmierern erkennt über das Mikrofon des Smartphones anhand des Geschreis eines Neugeborenen, ob dieses wegen Atemproblemen an einer lebensgefährlichen Sauerstoff-Unterversorgung leidet. Die App durchläuft zurzeit klinische Tests.

Auch Ärzte selbst können von intelligenten Apps profitieren. So hat Martin Raab vom Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Institut (Swiss TPH) mit seinem Team ein Programm entwickelt, das ein ganz bestimmtes Ziel verfolgt: In Afghanistan und Nigeria soll der übermässige Gebrauch von Antibiotika vermindert werden. Denn in diesen Ländern sind die Medikamente ein kostbares Gut. Zudem ruft die unnötige Verschreibung gefährliche Resistenzen hervor. Trotzdem werden Antibiotika Kindern mit einer Infektion auch dann verabreicht, wenn diese durch Viren verursacht wurde. Dagegen sind diese Mittel allerdings wirkungslos. Die App des Swiss TPH leitet Ärzte oder Pflegende Schritt für Schritt durch die Diagnose und kann so genauer sagen, ob die Gabe von Antibiotika bei einem Kind mit Fieber gerechtfertigt ist. In einer Studie in drei afghanischen Spitälern zeigte die App erste Erfolge: Der Antibiotika-Verbrauch sank um die Hälfte.

Bei aller Hoffnung, die solche Projekte machen, bleibt Raab aber skeptisch: «Viele Forschungsgruppen entwickeln zwar coole Apps oder Internet-Dienste, überlegen sich aber zu wenig, ob sie in den jeweiligen Ländern langfristig überhaupt einen Nutzen haben», sagt er. In Südafrika laufen zurzeit über 300 Pilotprojekte, welche Ärzte zu unterstützen versprechen oder es der Bevölkerung erlauben sollen, Krankheiten selbst besser zu beurteilen. Gerade in Entwicklungsländern könne es aber kontraproduktiv sein, wenn man die knappen Ressourcen noch dafür verschwendet, das Personal an neue Dienste zu gewöhnen oder gar Computer-Technik anzuschaffen, sagt Raab. «Erst wenn wir die lokalen Gegebenheiten genau kennen, können wir kranken Menschen in einem Land wirklich helfen.»

Dieser Artikel ist entstanden in Zusammenarbeit mit: Gebert Rüf Stiftung – Wissenschaft Bewegen