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Leben
Die Pandemie überstehen wir nur dank dem Internet. Die Krise führt uns digital wieder näher zusammen. Doch wie nachhaltig ist dieser Wandel?
Wenn wir uns vorzustellen versuchen, wie diese Pandemie die Welt vor 25 Jahren getroffen hätte, können wir eigentlich nur zu einem Schluss kommen: Das Internet ist ein Segen. Ohne wäre der Fernunterricht für Schüler und Studentinnen nicht möglich, Homeoffice unvorstellbar, und die Lieferung von Konsumgütern und Weihnachtsgeschenken vor die Haustür kaum zu bewerkstelligen. Dass die Erde trotz Lockdown weiterdreht, die Wirtschaft nicht ganz zum Erliegen kommt, haben wir dem feingliedrigen Informationsnetz zu verdanken, das den Globus umspannt und bis in die tiefsten Verästelungen unserer Gesellschaft reicht.
Ja, wie hätte man diese Katastrophe 1995 bewältigt? Um die Kontakte ähnlich stark zu minimieren, hätte man die Wirtschaft nahezu komplett herunterfahren müssen. 50 Prozent der Erwerbstätigen, die in der Schweiz 2020 ins Homeoffice wechselten, wären ausgefallen. Die Banken hätten den Zahlungsverkehr nicht mehr abwickeln und Firmen die Löhne nicht mehr auszahlen können. Das Backoffice der Detailhändler hätte schliessen müssen, neue Bestellungen wären nicht mehr möglich gewesen, die Läden bald leergekauft. Kurze Zeit später wäre die Anarchie ausgebrochen: Plünderungen, Strassenschlachten, Bürgerkriege.
Natürlich hätte die Menschheit anders gehandelt: Sie hätte einfach mehr Tote durch Covid-19 in Kauf genommen. Die Alternative wäre schlicht noch viel schrecklicher gewesen. Das Internet hat – wie Masken und Desinfektionsmittel auch – seinen Teil dazu beigetragen, dass sich das Virus nicht viel schneller ausgebreitet hat.
Doch das Netz hat nicht nur Leben gerettet, es hat die Menschen auch vor der sozialen Vereinsamung behütet. Kaum wird im März der Ausnahmezustand in der Schweiz ausgerufen, werden die Treffen mit den Grosseltern durch Videochats ersetzt. Statt sich auf einen Drink in der Bar nach Feierabend zu treffen, nehmen wir ein Bier aus dem Kühlschrank und prosten der Kollegin über Skype zu. Die Restaurants haben geschlossen, doch das hinderte uns nicht daran, sich mit einem Freund zu einem Zoom-Diner zu verabreden. Kinder treffen sich statt auf Spielplätzen in virtuellen Computerspielwelten – dabei ist so manch eine Mutter auf den Geschmack von «Township» gekommen, und der eine oder andere Vater hat sich auf das virtuelle Schlachtfeld von «Fortnite» gewagt. Alles virenfrei.
Die Digitaltechnologie macht das eigentlich Unmögliche möglich: Sie hält uns physisch auf Distanz und führt uns dennoch sozial zusammen. Dabei ist jeder exakt gleich nah und fern. Der Freund in Tokyo ist nicht weiter weg als der Kollege um die Ecke. Auch den als asozial verschrienen sozialen Medien kommt eine neue Bedeutung zu: Über Facebook werden Nachbarschaftshilfen organisiert und Tipps geteilt, was man mit der neu gewonnenen Freizeit zu Hause anstellen kann. Und wenn früher beim Scrollen durch die zahlreichen Ferienbilder aus fernen Ländern auch mal der Anflug von Neid aufgestiegen ist, so machte sich nun ein Gefühl von Gemeinschaft breit.
In den letzten Jahren wurde viel über die negativen Folgen der Digitalisierung geschrieben: von der ständigen Erreichbarkeit, die zu Burnouts führe, von Apps, die ähnlich süchtig machten wie Drogen, und von sozialen Medien, die Hass und Lügen verbreiteten. Die Digital-Ressentiments wurden unter dem Begriff «Techlash» vereint – eine Zusammensetzung aus «Technologie» und «Backlash», ein Rückschlag der Technik also.
Erleidet nun der Techlash selbst einen Backlash? Für die Zürcher Medienwissenschafterin Sarah Genner wäre das zu einfach gedacht. «Während der Pandemie wurde zwar vielen Menschen bewusst, wie nützlich das Internet und soziale Medien sein können», sagt die Expertin. Doch die negativen Effekte seien nicht einfach verschwunden. Im Gegenteil:
Die Krise wirkt als Brennglas und verstärkt bestehende Tendenzen.
Wer vorher einen Nutzen aus den sozialen Medien ziehen konnte, der wird das nun noch stärker tun. Wer sich hingegen zuvor schon von Fake News in die Irre habe leiten lassen, der laufe Gefahr, noch stärker abzudriften. Das Internet bleibt eben auch ein Fluch.
Auf Facebook und Co. organisiert sich nämlich nicht nur die Nachbarschaftshilfe, sondern gedeihen auch die abstrusesten Verschwörungstheorien. In einer Umfrage zeigte sich, dass von über 2000 Befragten in der Schweiz, Deutschland und Österreich 30 Prozent an einen versteckten Plan hinter Corona glauben. Interessanterweise sind Verschwörungstheoretiker in der Altersgruppe der 41- bis 65-Jährigen besonders präsent – in jener Generation also, die als digitale Immigranten auf Facebook eingewandert ist und nicht schon in Kinderjahren mit den Eigenheiten der sozialen Medien vertraut geworden ist.
Wenn sich das Leben zunehmend von der realen Welt in die virtuelle verlagert, so ist es nur logisch, dass deren Effekte einen umso stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft haben. Die halbanonyme Kommunikation begünstigt einen raueren Umgangston. Und Algorithmen drängen einen in Echokammern und sorgen dafür, dass sich Hass-Posts und Falschmeldungen oftmals rascher verbreiten. Denn sie sorgen für mehr Aufmerksamkeit. Die Folge ist eine Radikalisierung des Diskurses.
Dennoch weist der Internetsoziologe Stephan Humer aus Berlin darauf hin, dass wir diesen Mechanismen nicht einfach ausgesetzt sind. Der Professor der Hochschule Fresenius sagt:
Nicht die sozialen Medien verbreiten Hass und Rassismus, sondern die Menschen.
Wir könnten selbst bestimmen, wie wir diese Kanäle nutzen wollen. Und die Gesellschaft kann Druck auf die Tech-Konzerne aufsetzen, dass diese rigoroser gegen gefährliche Hass-Posts und Falschnachrichten vorgehen. Dass dies durchaus einen Effekt hat, zeigt sich ebenfalls im Jahr 1 der Pandemie.
Über 1000 Firmen setzen im Sommer Zeitweise ihre Werbung auf Facebook aus, um so ein Zeichen gegen Hass und Rassismus auf dem sozialen Netzwerk zu setzen – darunter etwa der Getränkehersteller Coca-Cola, der Konsumgüter-Riese Unilever oder der Autobauer Ford. Auch Stars wie Leonardo DiCaprio, Kim Kardashian oder Katy Perry zeigen Haltung und legten ihre Accounts zeitweise still. Ausschlag für diese Aktion war ein Post von Donald Trump, in dem der US-Präsident während der Protestzüge nach dem Tod von George Floyd implizit zu Gewalt gegen die Demonstranten aufgerufen hat. Anders als Twitter hat Facebook die Botschaft «When the looting starts, the shooting starts» («Wenn die Plünderungen beginnen, wird geschossen») nicht gelöscht.
Der Druck wirkt. Im Wahlkampf beginnt auch Facebook, regelmässig Posts von Donald Trump als Falschmeldungen zu kennzeichnen. Die Black-Lives-Matters-Bewegung hat den Protest ins Netz übertragen und Corona zu einem sorgfältigeren Umgang mit der Wahrheit von Facebook und Co. geführt. So bekunden Facebook, Twitter, Youtube und andere soziale Medien in einer Botschaft, gemeinsam gegen Falschmeldungen zu Covid-19 vorzugehen. Indem Desinformationen nicht einfach gelöscht, sondern mit Fakten kontextualisiert werden, wird zunehmend eine Methode gewählt, die der freien Meinungsäusserung nicht zuwider läuft.
Das Einlenken der Tech-Konzerne kommt nicht von ungefähr. Sie gehören zu den grossen Profiteuren der Pandemie; der politische und juristische Wille, sie stärker zu regulieren oder gar zu zerschlagen, ist im Jahr 2020 auch in den USA erwacht Apple verdoppelte beispielsweise seinen Wert fast und ist nun 2,2 Milliarden Dollar schwer. Ähnliche beeindruckend sind die Zahlen von Facebook, Google, Microsoft und Amazon.
Das durch Corona bedingte enorme Wachstum führt dazu, dass die Wirkungsmacht von Big Tech hinterfragt wird und die Konzerne selber zu gewissen Zugeständnissen bereit sein könnten.
Gegenwärtig finde ein generationenübergreifender Sinneswandel in Bezug auf soziale Medien statt, schreibt die Zukunftsforscherin Anja Kirig in ihrem Essay «Die grosse Korrektur». Es gelte, Abschied zu nehmen von den asozialen Medien. Sie ist überzeugt:
Die Pandemie markiert den Anbeginn einer neuen Ära des sozialen Netzwerkens.
Zumindest haben viele in diesem Jahr gelernt, dass die Kommunikation mit Freunden auf Facebook und Co. wichtiger ist als Likes. Das Bestaunen von Influencer-Bildern gibt einem wenig, wenn man isoliert zu Hause sitzt. Wird das so bleiben, wenn die Welt Corona überwunden hat? Wird ein fundamentales Umdenken stattfinden? Der Internetsoziologe Stephan Humer glaubt, dass die Menschen vermehrt zu einem neuen Umgang mit sozialen Medien finden werden:
Sie werden sie weniger idealisieren, sich weniger von ihnen treiben lassen und sie vermehrt als das nutzen, was sie sind: ein Werkzeug, um zu kommunizieren.
Diesen Trend könnte das Post-Corona-Zeitalter weiter verstärken. Auf die vielen digitalen Meetings folgt die Zoom-Müdigkeit, auf die Dankbarkeit, Freunde wenigstens virtuell treffen zu können, das Bedürfnis nach physischer Nähe. Wer will noch stundenlang Ferienfotos von Freunden in der Instagram-Timeline anschauen, wenn er selber wieder reisen kann? Wer will Likes sammeln, wenn er wieder auf Partys gehen kann? «Der Wunsch nach einem Ventil ist gross», sagt Humer, «und das kann kein Zoom-Bier ersetzen.»